Epilog: Die Geschichte von ecke:sócrates

Epilog: Die Geschichte von ecke:sócrates

Die WM ist vorbei. Die Brasilien-Reise ist vorbei. Einer meiner permanenten Lebensinhalte der letzten 10 Monate hat sich in Luft aufgelöst. Es ging so schnell. Von einem Tag auf den nächsten war ich schon in einem neuen Kapitel meines Lebens angekommen, einem Praktikum in Buenos Aires. Doch irgendwo, in einer Ecke meines Hinterkopfes rumort es immer noch. ecke:sócrates hallt nach. Um also nicht nur physisch, sondern auch mental mit dem Projekt ecke:sócrates abzuschließen, habe ich mich dazu entschlossen, die ganze Geschichte noch einmal schriftlich Revue passieren zu lassen.

Es begann an einem dieser eisig kalten Leipziger Wintertage im Januar 2013. Als ich abends aus der Uni nach Hause komme, liegt ein Brief auf der Türschwelle meines WG-Zimmers. Er ist vom akademischen Auslandsamt und ich habe ihn schon seit Tagen erwartet. Nervös öffne ich ihn und schmeiße ihn direkt danach vor Freude in die Luft. Ich habe die Zusage für ein Auslandssemester in Argentinien im Frühjahr 2014.

Über ein Jahr lang hatte ich also Zeit, mich auf dieses besondere Semester vorzubereiten. Einen Gedanken hatte ich seitdem im Kopf: »Zur selben Zeit findet doch im Nachbarland Brasilien die Fußball-Weltmeisterschaft statt. Du musst da irgendwie hin.« Menschen, die mich kennen, wissen, dass der Fußball einen ziemlich großen Teil meines Lebens ausmacht. Die Idee, bei einer WM in Brasilien, im Land des Fußballs dabei zu sein, elektrisierte mich. Die Frage war bloß, wie. Geld, um nach Brasilien zu reisen, hatte ich keines. Das halbe Jahr in Argentinien würde schon teuer genug werden.

Dass dieser Traum nicht gleich zerplatzte lag schließlich daran, dass sich zu dieser Zeit eine weitere Entwicklung in meinem Leben abzeichnete: Ich machte die ersten Schritte im Journalismus. Ein Jahr lang hatte ich nun schon als Redakteur beim Leipziger Uni- und Lokalradio mephisto 97.6 mitgearbeitet. Jetzt, im Juni 2013, war ich mir sicher, dass ich diesen Weg weitergehen wollte, Journalist werden wollte.

Daher hatte ich auch schon entschieden, meine Semesterferien für ein dreimonatiges Praktikum beim Leipziger Stadtmagazin kreuzer einzutauschen. Im selben Monat brachen in Brasilien während des Confederations Cup die Massenproteste los, die die WM auch für Außenstehende auf einmal in einem anderen Licht erscheinen ließen. Ich hatte zuvor nicht viel mehr über Brasilien gewusst, als die gängigen Klischees. Fußball, Samba, Bikinis. Doch die sozialen Unruhen ließen mich aufhorchen. Bisher hatte ich die Weltmeisterschaften immer nur aus der fußballerischen Perspektive betrachtet. Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigte, desto klarer wurde mir: Wenn ich nach Brasilien reisen würde, dann nicht als WM-Tourist.

Plötzlich lag die Idee so klar vor mir, als hätte es sie immer schon gegeben: Warum nicht meine Leidenschaften für den Fußball und den Journalismus mit einer Reise nach Brasilien verbinden. Den gesellschaftlichen Mehrwert wollte ich liefern, indem ich über Themen abseits des Fußballs berichten würde, zum Beispiel über die sozialen Unruhen im Land. Sportjournalisten gibt es sicher schon genug vor Ort.

Während meines ersten Praktikums im Print-Journalismus beim kreuzer, von August bis Oktober, arbeitete ich diese Grundidee immer weiter aus. Zu der Zeit schrieb ich meine ersten längeren Texte und Reportagen. Das machte so viel Spaß, dass ich auch mein Brasilien-Projekt in Textform realisieren wollte. Ursprünglich war ich von einem reinen Radio-Projekt ausgegangen. So oder so: Online sollte es sein. Gemeinsam mit zwei guten Freunden bastelte ich im Oktober und November an der Website und dem Logo des Projekts. Der Name stand zu der Zeit schon fest: »ecke:sócrates – Das Hintergrund-Journal zur WM 2014 in Brasilien«. Er ist mir beim Laufen eingefallen. Die Geschichte des legendären brasilianischen Spielmachers, Demokraten und Kinderarztes Sócrates hatte mich schon länger fasziniert.

Ich denke, gesellschaftskritischer Journalismus während der WM in Brasilien wäre in seinem Sinne gewesen. Daher wollte ich ihm dieses Projekt widmen. Die Ecke steht für eine einfache und zugleich komplexe Spielsituation im Fußball, in der alles passieren kann. Oder eben nichts. Das undurchsichtige Prinzip der Ecke lässt sich auch auf das Land Brasilien übertragen. Wie wirkt sich das Großevent WM 2014 letztendlich auf die brasilianische Gesellschaft aus? Kann das Land davon profitieren oder verpufft die Ecke im Nichts und übrig bleibt ein großer Scherbenhaufen?

Im November und Dezember beschäftigte ich mich neben meinem Soziologie-Studium fast ausschließlich mit der Projektidee und mit Brasilien. Schon damals entschied ich: In mehr als vier Städte könnte ich nicht reisen, da ich mindestens eine Woche lang in jeder Stadt recherchieren wollte. Auch war klar, dass die Städte für brasilianische Verhältnisse nicht allzu weit voneinander entfernt liegen sollten. Nach Rücksprache mit Freunden, die schon in Brasilien gewesen waren, entschied ich mich für São Paulo, Belo Horizonte, Porto Alegre und Rio de Janeiro. Als ich dann Anfang Dezember die skurrile WM-Auslosung (ausgerichtet in einem brasilianischen Luxus-Ressort) per Livestream verfolgte, war ich zunächst enttäuscht: Die deutsche Mannschaft würde leider all ihre Vorrundenspiele im Norden Brasiliens und damit außerhalb meiner Reichweite bestreiten. Da brach dann doch wieder der Fußballfan in mir durch. Immerhin konnte ich meinen Reiseplan noch so zurechtbiegen, dass falls das Team Gruppenerster werden sollte, es mir vielleicht in Porto Alegre über den Weg laufen würde.

Übrigens, was mir im Nachhinein verrückt vorkommt: All das plante ich schon, als noch nicht einmal sicher war, wie und ob ich das Projekt überhaupt finanzieren könnte. Im Endeffekt war aber genau das, nämlich eine ausgereifte und konkrete Projekt-Vorstellung zu haben, für meinen späteren Finanzierungsweg ein großer Vorteil: Viel hatte ich zuletzt von journalistischen Crowdfunding-Kampagnen gehört und je mehr ich drüber nachdachte, desto attraktiver schien mir diese Lösung. Denn welcher Verlag, welche Zeitung, welches Radio bezahlt einen zwar hypermotivierten, aber doch ziemlich unerfahrenen Nachwuchsjournalisten dafür, sechs Wochen lang auf eigene Faust in Brasilien auf Recherche-Reise zu gehen?

Und so musste ich mich mit der Idee anfreunden, mein erstes eigenes Video zu drehen. Eine Grundvoraussetzung beim Crowdfunding und vielleicht der wichtigste Faktor für eine erfolgreiche Kampagne. Das Video lag mir schwer im Magen, da ich in diesem Bereich keine Vorerfahrung hatte. Aber ich musste es wohl oder übel jetzt, Mitte Dezember drehen, da mein Zeitplan eng bemessen war. Im Januar wollte ich die einmonatige Crowdfunding-Kampagne starten, da Anfang Februar schon mein Flug nach Argentinien gehen würde. Und für solch eine Kampagne ist es ratsam, zumindest im selben Land wie die potenziellen Unterstützer zu sein.

An einem kalten Dezembertag kurz vor Weihnachten drehte ich schließlich gemeinsam mit meiner Freundin und einem filmerprobten Kollegen in einem Hamburger Park das Video. Ohne die kompetente Hilfe der Beiden wäre das niemals möglich gewesen. Für ein letztendlich vierminütiges Video drehten wir rund acht Stunden und kurz nachdem die letzte Szene im Kasten war, machte der Akku der Kamera schlapp. Punktlandung. Wie oft ich mich an diesem Tag verhaspelt habe? Ich weiß es nicht mehr. Aber als ich an dem Abend hundemüde einschlief, hoffte ich nur, dass genug brauchbare Szenen im Kasten waren.

Über die Weihnachtstage und Neujahr konnte ich mich davon dann höchstpersönlich überzeugen. Das Schneiden des Videos kostete mich viel Zeit und auch einige Nerven. Ich hatte mir die Deadline 8. Januar gesetzt. An dem Tag, meinem Geburtstag, wollte ich mit dem Crowdfunding online gehen. Den Geburtstagstrubel im blauen sozialen Netzwerk Nummer Eins konnte ich mir nicht entgehen lassen, so der Plan. Doch als das Video fast fertig geschnitten war und ich mich schon auf der Zielgeraden wähnte, passierte das Unglaubliche. Durch eine unglückliche Verkettung von Malheuren gab am 3. Januar der Bildschirm meines Laptops seinen Geist auf. Und ich hatte weder die Videodatei gespeichert, noch das Schnittprogramm auf einem anderen Rechner zur Verfügung.

So schnell wie möglich brachte ich den Laptop in die Reparatur, musste jedoch ein ganzes Wochenende ausharren. Mir waren die Hände gebunden – und daran war ich auch noch selbst schuld. Die Deadline wackelte, aber sie fiel nicht. Zwei Tage vorher hatte ich meinen Laptop wieder, konnte das Video in einer Nacht- und Nebelaktion fertigstellen und das Projekt schließlich bei krautreporter.de, der Plattform für unabhängigen Journalismus einreichen. Dort wurde es freundlicherweise innerhalb eines Tages geprüft und freigegeben, sodass ecke:sócrates tatsächlich am Morgen meines Geburtstages online gehen konnte.

Screenshot 1

Die erste Vorlesung an diesem Tag ließ ich sausen, da ich zu nicht viel mehr in der Lage war, als gebannt auf meinen Laptop starren und jede (nicht nur monetäre) Reaktion auf das Projekt in Echtzeit zu verfolgen. Die Zahl der Klicks auf den Aktualisierungsbutton an diesem Morgen deckte sich in etwa mit der Zahl meiner Atemzüge. 2200 Euro hatte ich als Finanzierungsziel ausgegeben und je mehr ich in diesen Stunden darüber nachdachte, desto wahnwitziger kam mir diese Summe vor. Wie sollte ich bloß so viel Geld zusammenbekommen?

So überzeugt ich von der Projektidee auch war, ich war mir in diesem Moment unsicher, dass sie auch genügend andere Menschen überzeugen würde. Was mir ebenfalls zu schaffen machte: Zuvor hatte ich nur meinen engen Freunden und meiner Familie von dem Projekt erzählt, aber jetzt hatte ich mich der Öffentlichkeit gestellt. Hielt im wahrsten Sinne des Wortes mein Gesicht dafür in die Kamera. Wenn die Kampagne Erfolg haben sollte, würde ich jetzt jeden einzelnen Tag die Werbetrommel rühren müssen. Leute ansprechen, anschreiben, anrufen. Alle meine Netzwerke auf das Projekt aufmerksam machen. 2200 Euro in 30 Tagen. Wie beim Crowdfunding üblich galt das Alles-oder-Nichts-Prinzip. Käme nur ein Euro weniger zusammen, wäre das Projekt gescheitert.

Als am Abend dieses bewegenden Geburtstages aber schon rund 160 Euro auf dem virtuellen Konto erschienen waren, waren die pessimistischen Gefühle vom Morgen wie weggeblasen. Zumal ich viele positive Rückmeldungen zur Projektidee bekam. Diese zwei Gefühle zogen sich übrigens durch die gesamte Crowdfundingphase. Immer, wenn ein neuer Unterstützer hinzukam, dachte ich: »Eigentlich müsstest du das doch locker schaffen.« Aber sobald die Seite mal mehr als einen halben Tag keine Bewegung verzeichnete, dachte ich ans Scheitern.

Der Crowdfunding-Monat verlief wie im Rausch. Ich hatte meine Augen und Ohren überall, nur nicht in den Uni-Büchern. Die drei Klausuren Anfang Februar ließen sich allerdings mit keiner noch so raffinierten Kampagne verschieben. Trotzdem mussten die Bücher auf mich warten. Bis dahin waren zu viele andere Dinge zu tun. Neben dem Werben um Unterstützer, musste ich ecke:sócrates ja auch inhaltlich vorantreiben. Seit Wochen schon sog ich alle Informationen, die ich über Brasilien und die WM bekommen konnte auf, speicherte Zeitungsartikel, schrieb mögliche Informanten an, sprach mit Leuten, die schon einmal in Brasilien waren.

Im November schon hatte ich meinen ersten Interviewpartner gefunden: Luiz Ruffato, einen bekannten brasilianischen Schriftsteller, der bei der Frankfurter Buchmesse 2013 die Eröffnungsrede gehalten hatte und kurz zuvor eine Anthologie mit brasilianischen Fußballgeschichten herausgegeben hatte. Ihn traf ich bei einer Lesung in Leipzig und sprach mit ihm über das Verhältnis von Literatur und Fußball, die Eigenheiten der brasilianischen Gesellschaft und über seine Sichtweise der WM. Das Interview mit ihm war die erste Veröffentlichung bei ecke:sócrates und sollte möglichen Unterstützern einen Vorgeschmack liefern.

Außerdem traf ich im Januar auf einem Vortrag in Dresden den ehemaligen SPD-Politiker Johannes Gerlach, der seit mehreren Jahren in Brasilien lebt und die politischen Verhältnisse vor Ort genau kennt. Auch mit ihm führte ich ein längeres Interview über die politisch und sozial instabile Situation Brasiliens vor der WM und der Präsidentschaftswahl 2014.

Zuletzt wurde ich durch einen Zufall auf Dr. Bernd Bauchspieß aufmerksam, einen 74-Jährigen Orthopäden und ehemaligen Leipziger Fußballstar. Er hatte 1964 im bei einer Reise mit der DDR-Olympiaauswahl im legendären Maracana-Stadion von Rio de Janeiro vor 140.000 Zuschauern ein Tor erzielt. Zweimal traf ich ihn in seinem Keller voller Erinnerungen zum Interview. Er hatte nicht nur äußerst spannende und pointierte Geschichten aus Brasilien, sondern auch viele brisante Anekdoten aus der Zeit des DDR-Fußballs zu erzählen. Einen ersten Kooperationspartner hatte ich mit dem Radiosender detektor.fm aus Leipzig nach mehreren guten Gesprächen auch schon an Bord. Wenn alles klappen sollte, würde ich im Sommer im Zuge des Projekts auch für detektor.fm aus Brasilien berichten.

Und diese Vision wurde immer konkreter, denn unterdessen lief das Crowdfunding wie am Schnürchen. Die berühmt-berüchtigte Talsohle gegen Mitte des Projekts blieb ecke:sócrates glücklicherweise erspart und so wurde ich von Tag zu Tag zuversichtlicher, dass es tatsächlich gelingen würde. Am 30. Januar war es schließlich so weit. Die 2200-Euro Marke war dank über 80 Unterstützern rund eine Woche vor Ablauf der Frist geknackt. Und ich überglücklich. Ich würde im Sommer tatsächlich als Reporter nach Brasilien reisen.

Bis hierhin hatte sich die Arbeit also gelohnt und ich hatte immer noch ein wenig Zeit mich auf die Klausuren und meine Reise nach Argentinien vorzubereiten.

Einziger Wehrmutstropfen: Genau einen Tag nach Ablauf meines Projekts, erschien bei krautreporter.de ein weiteres Projekt eines freien Journalisten, der ebenfalls während der WM nach Brasilien reisen wollte. Als ich es anklickte, traute ich meinen Augen nicht: Der Mann kam nicht nur aus Leipzig, sondern ich hatte ihn zufälligerweise zwei Wochen zuvor kennengelernt und mich sogar einmal länger mit ihm unterhalten. Natürlich hauptsächlich über das Brasilien-Projekt, an dem er als Sportjournalist Interesse zeigte. Dass er jetzt direkt nach meinem Crowdfunding auf der derselben Plattform ein Projekt mit sehr ähnlichem Ansatz startete, ließ bei mir nur zwei Schlussfolgerungen zu:

Entweder er hat die Grundidee von mir übernommen oder er plante sein Projekt ebenfalls schon seit längerem und zog es vor, das in unserem ausgiebigen Gespräch über Brasilien nicht zu erwähnen. Beides finde ich persönlich sehr bitter. Was noch hinzukommt und eher für die erstere Erklärung spricht war, dass er einige Formulierungen und Crowdfunding-Prämien eins zu eins aus meiner Projektbeschreibung übernommen zu haben schien.

Ich bin noch nicht lange in der Journalismus-Branche tätig, daher wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht, wie ich das einordnen sollte. Sind solche Aktionen gang und gäbe? Sollte man sich nicht so anstellen? Schließlich geht es hier nicht um ein ausgeklügeltes Patent für eine millionenschwere Erfindung, sondern „nur“ um eine Projektidee, die jeder Journalist hätte haben können. Trotzdem: Unter kollegialer Zusammenarbeit stelle ich mir etwas gänzlich anderes vor. Hätte er sein Vorhaben offen kommuniziert, hätte ich zum Beispiel nichts dagegen gehabt an mancher Stelle zu kooperieren oder sich gegenseitig zu ergänzen. Zumal wir auch noch für denselben Radiosender arbeiten.

Einen faden Beigeschmack hatte ich leider auch beim zweiten in dieser Sache involvierten Akteur: Krautreporter.de. Ich war bisher mit der Unterstützung dieser Crowdfunding-Plattform hochzufrieden gewesen und unterstütze das auch heute noch das neue Projekt der Krautreporter, da ich von der Kernidee überzeugt bin. Aber es zeugt meiner Meinung nach leider von wenig Fingerspitzengefühl, zwei so ähnliche journalistische Projekte direkt nebeneinander und kurz nacheinander auf seiner Plattform zu veröffentlichen, ohne das zumindest zu kommentieren.

Wie dem auch sei, ich hatte zu dem Zeitpunkt weder die Lust, noch die Zeit mich dieser Angelegenheit weiter zu widmen. Letztlich beschloss ich, derartige Vorfälle auszublenden und mich voll und ganz auf den Erfolg des Projekts ecke:sócrates zu konzentrieren. Darüber hinaus hatte ich noch drei Klausuren innerhalb von fünf Tagen zu schreiben und zwei Tage nach der letzten Klausur ging mein Flieger nach Argentinien.

Auf nach Südamerika! Ein Kontinent, der für mich bis jetzt nicht mehr als eine unbeschriebene Seite in meinem Tagebuch war. Bereits den ersten Zwischenstopp auf dem Weg nach Mendoza, Argentinien verbuchte ich als gutes Omen: São Paulo.

Brasilianisch ging es auch im Flugzeug zu: Ich saß inmitten einer Gruppe von 17-jährigen Schülern aus Porto Alegre, die von einem Deutschland-Austausch zurückkehrten. Mit meinem Sitznachbarn, Angelo, verstand ich mich ausgezeichnet. Ich erzählte ihm von ecke:sócrates und er brachte mir die ersten Brocken Portugiesisch bei. Am Ende lud er mich sogar während der WM zu seiner Familie nach Porto Alegre ein. Ein gelungener Start.

Die nächsten viereinhalb Monate verbrachte ich in Mendoza, einer idyllischen argentinischen Stadt, gelegen am Fuße der Anden und überregional bekannt als Weinhauptstadt. Dort führte ich eine Art »Doppelleben«: Einerseits studierte ich an der Uni, verbesserte mein Spanisch und genoss die Freuden des Auslandssemesters. Andererseits bereitete ich mich nebenbei intensiv auf die Zeit in Brasilien vor. Es gab viel zu tun: Ich musste die Flüge buchen, Unterkünfte organisieren, Kontakte knüpfen (so führte ich zum Beispiel ein ausführliches und sehr hilfreiches Gespräch mit Steffi Fetz und Lisa Altmeier von Crowdspondent, die ein Jahr zuvor ebenfalls als Reporterinnen durch Brasilien gereist waren), die in Deutschland geführten Interviews verarbeiten, Portugiesisch lernen, Themen vorrecherchieren, Flyer und Visitenkarten entwerfen, Facebook und Twitter auf Vordermann bringen…

Zumindest dachte ich, dass ich das alles musste. In der Zeit in Mendoza merkte ich zum ersten Mal, wie eng ich persönlich schon mit dem Projekt ecke:sócrates verbunden war. Das ging so weit, dass ich manchmal samstagsabends, während die anderen Studenten ausgelassen feierten, früher nach Hause ging. Eigentlich nicht meine Art. Aber ich hatte mir vorgenommen, den Sonntag am Projekt weiterzuarbeiten. Im Nachhinein denke ich, dass mir während der Zeit in Mendoza ein bisschen weniger Verbissenheit gutgetan hätte. Ich wollte alles akribisch durchplanen, nichts dem Zufall überlassen. Zu dem Zeitpunkt kannte ich jedoch Brasilien noch nicht und wusste auch nicht, dass gerade die Zufälle und Unwägbarkeiten den Reiz dieses Landes ausmachen. Das Projekt hätte auch mit etwas weniger Vorbereitungszeit funktioniert. Mit einer Ausnahme: Die Entscheidung in Mendoza einen Portugiesisch-Kurs zu besuchen, war mit Abstand die Beste und Wichtigste. Sich in Brasilien allein mit Spanisch und Englisch durchzuschlagen, ist zwar irgendwie möglich, aber vor allem als Journalist keine gute Idee. Ich hörte zuvor, dass in keinem anderen Land der Welt die Menschen so dankbar sind, wenn man als Ausländer ihre Sprache spricht und kann das nur bestätigen.

Auch inhaltlich gab es Fortschritte. Ich lernte in Mendoza viele brasilianische Austauschstudenten und mit einigen von ihnen war ich gut befreundet. Auf einer Wanderung in den Anden erzählte mir mein Freund André aus Maringa in der Provinz São Paulo, dass er als Kind tatsächlich einmal den Namenspaten meines Projekts, Sócrates, getroffen habe. Also führte ich ein Interview mit ihm über diese Begegnung und darüber, wie Sócrates, der Revoluzzer, diese umstrittene WM in seinem Heimatland interpretiert hätte.

Außerdem interessierte mich die Perspektive der brasilianischen Austauschstudenten, die ja durch dieses Semester in Argentinien die Fußball-WM im eigenen Land verpassen würden. Eine Vorstellung, die für mich 2006 einem Albtraum geglichen hätte. Ich bekam in ihrer Deutlichkeit überraschende Antworten.

Eine brasilianische Freundin brachte mich bei der Gelegenheit auf eine weitere Idee: Sie fand es schade, dass die Texte bei ecke:sócrates nur auf Deutsch erscheinen würden. Sicher würden auch Brasilianer sich dafür interessieren. Also bot sie mir an, einige Texte zu übersetzen. Ich gründete daraufhin die Rubrik internationale:ecke. Dort sind im Verlauf des Projekts dank der Übersetzungshilfe weiterer Freunde insgesamt fünf Texte auf Portugiesisch und Englisch erschienen.

Der WM-Start im Juni rückte mit großen Schritten näher und die Negativ-Meldungen aus Brasilien häuften sich: Tote beim Stadienbau, Angst vor hoher Kriminalität, Umsiedlungen in den Favelas, Verkehrschaos, unfertige Stadien, Polizeistreiks, Plünderungen und Gewalt gegen friedliche Protestanten. Es glich dem Sammelsurium von blauen Briefen, die früher zur Halbzeit des Schuljahres auf dem Lehrerpult lagen: Brasilien schien seine Hausaufgaben nicht gemacht zu haben. Ich las alles aus allen Quellen, die mir zugänglich waren und unterhielt mich mit vielen Brasilianern in Mendoza.

Doch trotz dieser Informationsflut kam ich mir unwissend vor. Irgendwann Ende Mai war ich des ewigen Analysierens des Unbekannten überdrüssig. Ich wollte nur noch nach Brasilien, mir selbst ein Bild machen. Und ich hatte trotz aller Bedenken auch große Lust auf den fußballerischen Teil der WM. Gemeinsam mit einem Kollegen schrieb ich daher für das Online-Magazin JUICED einen Artikel, in dem wir die deutsche Weltmeister-Mannschaft 1990 mit dem aktuellen Kader 2014 verglichen und verblüffende Gemeinsamkeiten fanden. Die Prognose lautete daher nicht von ungefähr: Deutschland wird Weltmeister. Naja, prognostizieren kann man viel. Wirklich daran geglaubt habe ich trotz der überzeugenden Faktenlage dieses Artikels nicht, muss ich zugeben.

Dann, am 5. Juni war es endlich soweit: Ich brach auf nach Brasilien. São Paulo war der erste Ort meiner Reise. Als ich gegen drei Uhr nachts dort am Flughafen ankam, war mein Gepäck leider noch nicht vor Ort. Dafür aber ein ehemaliger Arbeitskollege, der mich netterweise abholte. Und ein Panzer.

Nette Begrüßung (Bild: T. Zwior

Nette Begrüßung (Bild: T. Zwior)

Es war ein holpriger Start in Brasilien, zumal ich mir anscheinend am letzten Abend in Mendoza noch eine ordentliche Erkältung eingefangen hatte, ganze vier Tage brauchte, um eine funktionierende Handykarte zu kaufen und zwangsweise die ersten sechs Tage in den gleichen Klamotten herumlaufen musste. Einen Tag vor Beginn der WM, nach unzähligen Telefonaten mit dem Flughafenpersonal, traf er dann ein, mein Rucksack.

Knapp zwei Wochen verbrachte ich in São Paulo. Untergekommen war ich in der Wohnung eines ehemaligen Arbeitskollegen. Zu Anfang hatte ich das Glück, meinen Leipziger Kollegen John Hennig wiederzutreffen. Mit ihm ging ich die ersten Recherchen gemeinsam an. So trafen wir zum Beispiel den brasilianischen Straßenfußball-Fotografen und »Fixer« Caio Vilela zum Interview. Vilela nahm uns am nächsten Tag mit zu einem brasilianischen Jungen, Vinicius, der in der Nähe des WM-Stadions von São Paulo gewohnt hatte und dessen Familie im Zuge der WM umgesiedelt wurde. Auch Andrew Aris, der Gründer des Sozialprojekts Spirit of Football war mit von der Partie. Wir spielten gemeinsam mit ihm, Vinicius und ein paar Freunden Fußball. Und bekamen einen ersten Einblick ins brasilianische Familienleben, da Vinicius‘ Mutter uns zum Kaffee einlud.

Teamfoto (Bild: T. Zwior)

Teamfoto (Bild: T. Zwior)

Anschließend sahen John und ich uns noch im Hotel der FIFA um, das nur fünf Minuten von unserem Wohnort gelegen war. Die widersprüchlichen Erlebnisse dieses Tages habe ich in der ersten Reportage verarbeitet. Außerdem waren John und ich am nächsten Tag im Radio, bei detektor.fm in der neuen Sendung »Doppelstunde Sport«, zu hören. Dort berichten wir ausführlich über unsere ersten Tage in der Mega-Metropole São Paulo und die letzten Tage vor WM-Start.

Am Donnerstag, den 12. Juni, rollte schließlich in der Corinthians Arena der erste Ball der Fußball-Weltmeisterschaft 2014. Brasilien gegen Kroatien. Und ich war live dabei. Zumindest vor dem Stadion.

Gemeinsam mit zwei guten Freunden, die während der WM für die NGO Football Beyond Borders arbeiteten und unter anderem in Salvador einen Favela World Cup organisierten, saugte ich die Stimmung rund um die Arena auf. Das Spiel selbst verfolgten wir aber im erstbesten Fast-Food-Restaurant, das wir in der Nähe des Stadions fanden. Wir verpassten zwar die Nationalhymnen, nicht aber das erste Tor. Das Eigentor von Marcelo legte sich wie ein Schatten über die Gemüter der in unserer »Kaschemme« anwesenden Brasilianer. Am Ende hatte Brasilien jedoch dank einer zweifelhaften Aktion von Fred und Neymar zur Erleichterung aller das Spiel gedreht. 3:1. Wir machten uns auf ins Nachtleben von Sao Paulo, wo ich noch das ein oder andere inoffizielle Interview führen konnte. Über die Ereignisse dieses Tages schrieb ich eine zweite Reportage und berichtete auch für detektor.fm.

Insgesamt war die Zeit in São Paulo geprägt von der Einstellung auf eine komplett neue Situation: Ich war jetzt offiziell 24 Stunden am Tag für ecke:sócrates im Einsatz. Doch wie sollte ich mir die Zeit am besten einteilen? Ich wollte am liebsten den ganzen Tag in der Stadt unterwegs sein, auf der Suche nach Geschichten und neuen Erfahrungen. Aber wann sollte ich diese dann niederschreiben? Ich konnte doch nicht drinnen am Schreibtisch sitzen, während draußen die WM und die Stadt São Paulo pulsierten. Ein Dilemma, das sicher viele Auslandskorrespondenten bei Großereignissen kennen. Mir war es neu. Letztendlich gelang es mir, einige Nächte und sogar einen ganzen Tag zum Schreiben freizuräumen. Denn ich merkte, dass ich das nicht einfach zwischen Tür und Angel erledigen konnte. Was ich auch merkte war, dass ich viel zu viele Themenideen hatte, die ich rein zeitlich leider gar nicht alle verwirklichen konnte.

Ebenfalls neu für mich waren die Anfragen anderer Medien. So erhielt ich in den ersten Tagen zwei finanziell reizvolle Angebote: Für das eine sollte ich im Rahmen einer PR-Kampagne täglich bunte Meldungen aus Brasilien bei Facebook veröffentlichen. Das andere Angebot kam von einer Lokalzeitung, die jeden Tag einen Text mit Foto über das Drumherum der WM haben wollte. Beide lehnte ich nach reiflicher Überlegung ab, da sie das Projekt ecke:sócrates hätten verwässern können. Meine Grundfinanzierung war ja durch das Crowdfunding gesichert und ich hätte mich durch Annahme dieser Nebenverdienste erheblich in meiner Freiheit eingeschränkt. Auch im Nachhinein erachte ich diese Entscheidung noch als richtig.

In São Paulo entstanden noch zwei weitere Texte. Zum einen ein längeres Interview mit dem bekannten Politikwissenschaftler, Blogger und Journalisten Leonardo Sakamoto, für das ich zuvor einige Hebel in Bewegung gesetzt hatte. Sakamoto hatte den Thinktank Reporter Brasil mitgegründet, der sich vor allem mit Menschenrechts- und Umweltfragen auseinandersetzt und das Großereignis WM wissenschaftlich fundiert analysiert hat.

Übrigens: Erst hatte Sakamoto mir signalisiert, er habe nur wenig Zeit. Dann wurde das Interview aber doch so lang, dass ich beinahe den Anpfiff des ersten Deutschland-Spiels gegen Portugal verpasst hätte. Das 4:0 war ein Einstand nach Maß. Thomas Müller, dieser Fuchs, hatte mal wieder alles richtig gemacht…

Zum anderen traf ich in der Nähe meiner Wohnung den Straßenhändler Lourival, der sehr krank ist und die WM verflucht. Trotzdem verkaufte er tagein tagaus seine brasilianischen Fanartikel. Das Gespräch mit ihm hat mich sehr bewegt, weshalb ich ihn porträtiert habe.

Nach einem weiteren Korrespondenten-Gespräch, diesmal mit Radio mephisto 97.6, ging es am Tag des zweiten Vorrundenspiels Brasiliens gegen Mexiko (0:0) weiter zu meiner zweiten Station: Belo Horizonte. Die Hauptstadt des Bundestaates Minas Gerais war mit insgesamt sechs WM-Spielen einer der gefragtesten Spielorte, galt aber auch als Protest-Hochburg.

Eine argentinische Freundin aus Mendoza hatte mir zuvor den Kontakt zu João hergestellt. João studiert in Belo Horizonte und wohnt in einer 8er WG in der Nähe des WM-Stadions. Bei ihm konnte ich eine Woche lang übernachten, was sich als Glücksgriff entpuppte. João und seine Freunde waren sehr engagiert in der Anti-WM-Bewegung, auf deren Spuren ich mich sowieso begeben wollte. So entstand eine weitere Reportage, über die erfolglosen Bemühungen der Studenten, die Proteste aus der Vorjahr wieder von Neuem zu entfachen.

Das Leben in der 8er-WG genoss ich sehr. Fast jeden Abend aßen und tranken wir gemeinsam und es wurde viel gesungen und musiziert. So konnte ich eine weitere Idee verwirklichen, auf die mich ein Freund gebracht hatte: Als neues Element von eckes:sócrates erstellte ich die Youtube-Playlist »Musica da Copa«. Die Idee dahinter: Jeder Brasilianer, den ich auf meiner Reise treffe würde, könnte mir sein Lieblingslied nennen und ich würde es mit in die Playlist aufnehmen. So entstand in den nächsten Wochen ein individueller ecke:sócrates-WM-2014-Soundtrack.

Außerdem stieß ich in Belo Horizonte auf zwei weitere spannende Geschichten: Ich schrieb über ein Restaurant in Stadionnähe, das wegen einer willkürlich abgesperrten Straße während des Spiels Argentinien gegen den Iran, den Umsatz des Jahres verpasst hatte. Und über den Zwiespalt eines jungen Mannes, der für das Gehalt seines Lebens während der WM als VIP-Betreuer im Stadion arbeitete, diese Scheinwelt aber gleichzeitig aufs Tiefste verabscheute.

In Belo Horizonte ging ich oft spät zu Bett und stand sehr früh wieder auf, um an verschiedenen Tagen Radio-Interviews zu führen. Während meine Mitbewohner in ihrem Zimmern noch tief und fest schlummerten, sprach ich im Wohnzimmer mit den Redaktionen von detektor.fm, mephisto 97.6 und MDR Sputnik über meine jüngsten Erlebnisse in Brasilien.

Die Zeit in Belo Horizonte zeigte mir insgesamt einige Schattenseiten der WM auf, die sich auch in den Texten widerspiegeln. Bei den Studenten herrschte doch, sobald das Thema WM auf den Tisch kam, eine entweder gedrückte oder oftmals wütende Stimmung. Für die Spiele interessierte sich dort erst recht keiner, sodass ich mich anpasste und fast jedes Spiel sausen ließ. Einen Fernseher gab es in der WG ohnehin nicht. Ein konflikttheoretischer Essay von João, den ich ebenfalls bei ecke:sócrates veröffentlichte, gibt einen weiteren Einblick in die verzwickte Situation in Belo Horizonte.

Das zweite Deutschland-Spiel gegen Ghana konnte ich mir trotz allem nicht entgehen lassen und suchte mir alleine eine Bar. Dort lernte ich drei Deutsch-Brasilianer kennen. Wir verstanden uns blendend, die drei kamen schließlich in deutscher Fanmontur.

Mit den drei Deutsch-Brasilianern (Bild: T. Zwior)

Mit den drei Deutsch-Brasilianern (Bild: T. Zwior)

Die Stimmung kippte erst, als ein gewisser Miroslav Klose seinen »Kadaver« (Eigenzitat M. Klose) doch noch einmal animieren konnte, einen Kullerball zum 2:2 ins ghanaische Tor zu lenken. Es war sein insgesamt fünfzehntes WM-Tor. Damit hatte er den Rekord des brasilianischen »Phänomens«Ronaldo eingestellt. Fortan wetterten meine deutsch-brasilianischen Freunde lautstark gegen Klose und gegen die deutsche Mannschaft und feierten jeden Ballkontakt der Ghanaer. Ihre Trikots und Hüte jedoch behielten sie an. 2:2 der Endstand.

Schweren Herzens verließ ich nach einer Woche Belo Horizonte und meine neu gewonnenen Freunde. Die nächste Stadt auf dem Reiseplan hieß Porto Alegre.

Weiter geht die Reise: Wandkunst aus der WG in Belo Horizonte (Bild: T. Zwior)

Weiter geht die Reise: Wandkunst aus der WG in Belo Horizonte (Bild: T. Zwior)

Diese Stadt war der südlichste WM-Spielort und das merkte ich auch klimatisch sofort. Hier herrschte im Gegensatz zu São Paulo und Belo Horizonte nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch der Winter. Vom Flughafen holte mich ein alter Bekannter ab: Angelo, der Schüler, der auf meinem ersten Flug von Frankfurt nach São Paulo im Februar neben mir gesessen hatte.

Er und seine Familie hatten mich zu sich eingeladen und ich fühlte mich nach der Junggesellenbude in São Paulo und der Studenten-WG in Belo Horizonte, als sei ich einen weiteren Schritt rückwärtsgegangen, in der Entwicklung des flügge werdenden Menschen. Das Familienleben tat mir sehr gut. Nach rund einer Woche teilten mir Angelos Eltern und sein kleiner Bruder Bruno mit, ich wäre jetzt ein offizielles Familienmitglied und könne doch länger bleiben. Es war eine der schönsten Erfahrungen der gesamten Brasilien-Reise.

Doch ich habe in Porto Alegre nicht nur das Familienleben genossen, sondern auch an neuen Inhalten für ecke:sócrates gefeilt. Einen Tag lang konnte ich Angelo in seine Schule begleiten und sogar nach Absprache mit der Lehrerin eine komplette Deutschstunde mit den Jugendlichen gestalten. Es entstand eine sehr interessante Gruppendiskussion über die Pros und Kontras der WM in Brasilien.

Einen Tag zuvor war Deutschland durch ein 1:0 gegen die USA als Gruppensieger ins Achtelfinale eingezogen, was bedeutete, dass die Mannschaft am Montag nach Porto Alegre kommen würde. Das war neben der Diskussion im Deutschunterricht natürlich das Gesprächsthema Nummer Eins. Auch im Korrespondenten-Gespräch mit mephisto 97.6.

Dass ich dann aber tatsächlich am Montag im Stadion sein sollte, hätte ich mir an diesem Tag nicht träumen lassen. Nach all dem, was ich in den letzten Wochen über die WM, die FIFA und den Ticketschwarzmarkt erfahren hatte, hatte ich einen Stadionbesuch für mich ausgeschlossen. Warum und wie es doch dazu kam, habe ich in einem, zugegeben, sehr emotionalen Bericht festgehalten.

Im Stadion, während des enorm schwierigen Spiels gegen Algerien, das Deutschland letztlich in der Verlängerung 2:1 gewinnen konnte, wurde ich auf eine weitere Problematik aufmerksam: Die deutschen Fans standen mit der FIFA auf Kriegsfuß. Die Hintergründe dazu erfuhr ich später im Interview mit dem Fanbetreuer Tom Roeder, das zum meistgeklickten Artikel bei ecke:sócrates avancierte.

Zum ersten Mal machte ich in Porto Alegre auch Bekanntschaft mit einer Institution, die unter dem Namen »FIFA Fan Fest« bekannt wurde. Ein einziges Schaulaufen der Werbepartner garniert mit einer Leinwand, auf der tatsächlich bisweilen Fußball zu sehen ist. Mit Angelo und seinem Bruder Bruno verfolgte ich dort bei strömendem Regen das erste Achtelfinale Brasilien gegen Chile. Das Spiel war für die anwesenden Brasilianer die reinste Qual und auch für mich ein Nervenkitzel. Immer wieder fragte ich mich während des Spiels, was wohl passieren würde, wenn Brasilien tatsächlich jetzt schon ausscheiden würde. Ein Knall riss mich aus den Gedanken: Der Chilene Pinilla hatte in der letzten Minute der Verlängerung die Latte getroffen. Unbegreiflich. Doch dann gewinnt Brasilien im Elfmeterschießen. Der Gastgeber bleibt im Turnier. Und die vorher noch so dunklen Regenwolken über Porto Alegre verziehen sich. Vorerst.

Zwei Tage nach dem deutschen Viertelfinaleinzug gegen Algerien ging es für mich weiter nach Rio de Janeiro, meiner finalen Station. São Paulo, Belo Horizonte und Porto Alegre hatten mir sehr gut gefallen, aber oft bemerkte ich bei den Brasilianern dort eine Art Minderwertigkeitskomplex. In jeder der drei Städte führte ich Gespräche ungefähr dieser Art: »Wie findest du unsere Stadt?« – »Gefällt mir gut hier.« – »Ja, dann warte erstmal ab, bis du nach Rio kommst. Danach hast du uns und unsere Stadt ganz schnell vergessen.«

Soweit würde ich im Nachhinein nicht gehen, aber Rio ist tatsächlich ein besonderer Ort. Als ich abends mit dem Bus zum ersten Mal die Strecke vom Flughafen aus über Botafogo, Flamengo, Copacabana, Ipanema bis nach Leblon fahre, fühlt es sich surreal an. Von diesen Orten hatte ich so viel gelesen, viele Bilder gesehen. Jetzt war ich auch in der Realität dort angekommen. Wieder hatte ich Glück bei der Unterkunft: Ein sehr guter Freund, der vor ein paar Jahren durch Brasilien gereist war, vermittelte mir den Kontakt zu einer Familie im Stadtteil Leblon. Leblon ist eine der wohlhabendsten Gegenden Rios und die Familie wohnte auch noch ganze drei Minuten vom Strand entfernt. Auch bei ihnen fühlte ich mich sehr wohl. Ich hatte also die perfekten Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Blick auf die Strände von Ipanema und Leblon (Bild: T. Zwior)

Blick auf die Strände von Ipanema und Leblon (Bild: T. Zwior)

In den ersten Tagen erkundete ich die Stadt, schrieb übrig gebliebene Texte aus Porto Alegre nieder, recherchierte, traf einige alte Bekannte wieder und sah am Freitag, den 4. Juli, kurz nach einem ausführlichen Korrespondenten-Gespräch mit detektor.fm, zum ersten Mal das Maracanã-Stadion. Deutschland spielte an diesem Tag hier gegen Frankreich und ich wollte mir die Stimmung vor Ort nicht entgehen lassen. Näher als einen Kilometer kam ich jedoch aufgrund der Absperrungen nicht an das Stadion heran.

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Trotzdem unterhielt ich mich an der Absperrung mit vielen Menschen und lernte vier Mexikaner kennen, die ebenfalls kein Ticket hatten. Mit ihnen beschloss ich zum Fanfest an der Copacabana zu fahren – so kurz vor dem Spiel ein Himmelfahrtskommando. Erst zwanzig Minuten nach Spielbeginn kamen wir an und hatten das einzige Tor des Tages durch Hummels schon verpasst. Es wurde ein langer Tag. Da wir nach Deutschlands knappen aber verdienten Halbfinaleinzug auch noch das Spiel Brasilien gegen Kolumbien dort verfolgten, hatten wir am Ende sechs Stunden in der Gluthitze des Fanfests verbracht.

In Erinnerung bleiben mir von diesem Tag sicherlich tausende Brasilianer, die vor der untergehenden Sonne Rios inbrünstig die Nationalhymne sangen und die spätere Schockstarre nach Neymars Verletzung. Wie schwerwiegend diese war, erzählte mir auf dem Rückweg erst ein aufgewühlter Taxifahrer. Für mich war der Abend allerdings noch nicht vorbei: In einer Bar lernte ich den weltreisenden Video-Blogger Florian Voß kennen. Er kommt, wie ich, aus dem Münsterland und porträtiert in seinem Format »Münster Global« für die Westfälischen Nachrichten Münsteraner im Ausland. Eine Episode, gedreht einige Wochen später in Buenos Aires, handelt auch von mir und ecke:sócrates.

Fest stand nach diesem Tag auch, dass sich im Halbfinale Deutschland und Brasilien gegenüberstehen würden. Die beiden Länder, denen ich den Titel am meisten gönnte. Um mich auf dieses Spiel einzustimmen, waren mir die zwei Ruhetage ohne Fußball sehr willkommen. Der Sonntag, war tatsächlich der einzige Tag, an dem ich das Projekt Projekt sein ließ und mit meiner Gastfamilie surfen fuhr. Erst dort am Strand bemerkte ich, wie bitter nötig auch ich eine Pause hatte.

Den ganzen Montag verbrachte ich damit, Postkarten an die Crowdfunding-Unterstützer zu schreiben. Dreißig an der Zahl. Ich hatte gedacht, dass ich das in wenigen Stunden erledigen könnte, aber auch hier sah die Realität anders aus.

Das Halbfinale rückte unweigerlich näher. Mir war klar, dass es unabhängig vom Ergebnis ein einschneidendes Ereignis sein würde. Entweder Deutschlands goldene Generation um Lahm, Schweinsteiger und Mertesacker würde ohne Titel abtreten oder der Gastgeber Brasilien würde in ein Trauertal stürzen – mit unvorhersehbaren Konsequenzen für Land und Leute.

An den Ausgang der Geschichte wird sich ein Großteil der Menschen auf dieser Welt erinnern können. Ich selbst erlebte diese Sternstunde des deutschen und gleichzeitig Tragödie des brasilianischen Fußballs im strömenden Regen am Strand von Rio – mit hunderten Brasilianern um mich herum. Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, Sechs, Sieben. Sieben zu Eins. Meine Erlebnisse an diesem Tag verarbeitete ich in einer weiteren Reportage.

In den nächsten Tagen war die Stadt kaum wieder zu erkennen. Alle gingen ruhig ihren Angelegenheiten nach. Nur die teilweise tiefschwarzen Titelblätter an den Zeitungskiosken ließen noch erahnen, was sich gestern Abend zugetragen hatte.

Das zweite Halbfinale zwischen den Niederlanden und Argentinien lief zwar auf allen Bildschirmen der Stadt, aber kaum jemand schaute hin. Bis zuletzt hatte ich gehofft, dass Deutschland, und damit auch mir, ein Duell mit meinem fußballfanatischen Gastland Argentinien erspart bleiben würde. Gerade weil ich die Woche darauf wieder dorthin zurückkehren würde. Doch es kam bekanntlich anders. Die Deutschen, die ich während dieses zweiten Halbfinales traf, unterhielten sich ohnehin fast ausschließlich über die Preise der Finaltickets als über den möglichen Finalgegner. Unvorstellbar, wie viel Geld einige Leute in meinem Alter für 90 Minuten Fußball auf den Tisch legen würden.

In den Tagen bis zum Finale konnte ich endlich die Früchte meiner Recherchen einfahren und einige spannende Interviews führen. Darunter der stadtpolitische Blogger Jan Tonio Schreiber Kruger, mit dem ich über die sozialen und strukturellen Folgen der Großevents WM und Olympia für Rio sprach und die Filmemacher Fausto Mota, Henrique Ligeiro und Raoni Vidal. Die drei hatten den vielbeachteten Dokumentarfilm Domínio Publico gedreht, der die Missstände in Rios Favelas aufzeigt und die aufkeimende soziale Protestbewegung im Land ein Jahr lang begleitet und hinterfragt. Außerdem führte ich noch zwei Korrespondentengespräche mit mephisto 97.6  und detektor.fm über das bevorstehende Finalwochenende.

Dann war es wirklich soweit, der 13. Juli 2014 – seit Monaten rot in meinem Kalender markiert – war gekommen. Finaltag.

Ein zweigeteilter Tag: Bis zum frühen Nachmittag trieb ich mich am Maracanã-Stadion herum, um Informationen und Stimmen für eine letzte Reportage zu sammeln. Die Sicherheitsvorkehrungen und das Polizeiaufgebot am Stadion übertrafen alles, was ich bisher gesehen hatte. An einem angrenzenden Platz fand am letzten Tag des Turniers noch eine letzte größere Anti-WM-Demonstration statt. Ich begleitete sie so lange wie möglich, immer im Hinterkopf, dass ich auf keinen Fall den Anstoß des Finales verpassen dürfte. Das ist er, der Zwiespalt des fußballsüchtigen Reporters. Nachdem ich mich eine Stunde lang vom Stadion aus zurück durch die Stadt Richtung Strand gekämpft hatte, freute ich mich, dass mir ein paar Freunde einen Platz am deutschen Strandkiosk von Leme freigehalten hatten. Dort schauten rund 200 Deutsche Fans das Spiel gemeinsam, während nebenan in Copacabana das Fanfest und auch fast alle Straßen fest in argentinischer Hand waren. 100.000 siegessichere Argentinier sollen an diesem Tag in der Stadt gewesen sein.

Das Spiel war für mich der Höhepunkt einer ohnehin schon hochemotionalen WM und während der ersten 112 Minuten gingen mir tausende Gedanken durch den Kopf. Wenn dieses Spiel vorbei wäre, würde ja schließlich nicht nur die WM, sondern auch das Projekt ecke:sócrates beendet sein. Je älter das Spiel wurde, desto mehr sehnte ich mir eine Entscheidung herbei. Die Spannung war unerträglich und ich wollte nur noch wissen, ob ich jetzt mit gesenktem Haupt nach Hause gehen oder die Party des Jahres feiern kann. Dank Mario Götzes Geniestreich in der 113. Minute wurde es letztere. Wie viele Kilogramm Ballast von mir nach Abpfiff abgefallen sind, darüber kann ich nur Spekulationen anstellen. Egal. Weltmeister.

Stellvertretend für den Zwiespalt des Finaltages soll zum einen diese Reportage über die Begegnungen und Erlebnisse der letzten WM-Tage stehen und zum anderen folgendes Video:

 

Die Nacht danach in Rio war lang. Nur so viel dazu: Am Montag stand ich dem MDR um 11 Uhr morgens, nach rund zwei Stunden Schlaf, zum Interview zur Verfügung. Wie ich das geschafft habe, ist mir im Nachhinein ein Rätsel. Jedenfalls kam ich mir – zumindest ein bisschen – vor wie Bastian Schweinsteiger, der lädierte Held des gestrigen Spiels.

Ein letztes Interview hatte ich an diesem Tag noch zu führen. Ich unterhielt mich lange mit Eduardo, einem ergrauten Strandfußballer, den ich vor ein paar Tagen kennengelernt hatte. Das Porträt über ihn steht exemplarisch für die tiefe Liebe der Brasilianer zum Fußball und die Vielzahl an herben Enttäuschungen, die sie während der Weltmeisterschaft 2014 im eigenen Land erleiden mussten. Das Gespräch war auch für mich ein schöner und passender Schlusspunkt des Projekts ecke:sócrates.

Einen Tag später packte ich meine Sachen, verabschiedete mich noch kurz vom Cristo Redentor und flog zurück nach Argentinien, ins Land des Vizeweltmeisters.

Dass sich bei dieser WM die Wege der Teams meiner beiden Gastländer Brasilien und Argentinien mit dem meines Heimatlandes gekreuzt haben, ist eine weitere schöne Geschichte, die niemand besser hätte schreiben können.

Als ich mich auf den Weg zum Flughafen von Rio machte, überstrahlte ein einziges Gefühl alles andere: Dankbarkeit.

Mein Dank gilt zunächst dem Land Brasilien und seinen unheimlich herzlichen und gastfreundlichen Menschen, die meine Reise geprägt haben. Ein grinsendes »Valeu« oder ein warmes »Nada« von den unterschiedlichsten Menschen haben mir sehr oft den Tag versüßt und dazu beigetragen, dass ich mich immer willkommen gefühlt habe.

Meine Lieblingsbeschäftigung in Brasilien: Visitenkarten ausschneiden (Bild: T. Zwior)

Lieblingsbeschäftigung in Brasilien: Visitenkarten ausschneiden (Bild: T. Zwior)

Besonders dankbar bin ich den Menschen in São Paulo, Belo Horizonte, Porto Alegre und Rio de Janeiro, die mir ein Bett zum Schlafen gaben und mich wie einen Freund bei sich aufgenommen haben, bevor wir tatsächlich Freunde wurden.

Und zuletzt möchte ich mich bei allen Menschen bedanken, die das Projekt ecke:sócrates durch ihre Unterstützung möglich gemacht haben. Ganz besonders möchte ich dabei meine Freunde Ardalan Aram (Homepage), Johannes Berheide (Konzeption, Logo & Flyer) und Jasper Schlump (Übersetzungen) sowie meine Freundin Vivien Winzer (Videodreh & Korrekturlesen) nennen, die nebenbei sehr viel Zeit, Ideen und Arbeit in dieses Online-Journal gesteckt haben. Alleine hätte ich ein Projekt dieses Ausmaßes niemals stemmen können.

Mir war immer bewusst, dass ecke:sócrates ein zeitlich begrenztes Projekt ist, aber es ging dann doch schneller vorbei, als gedacht. Über Anregungen, Anmerkungen und Kritiken freue ich mich jedoch weiterhin.

Ein letzter Gruß geht an das Land, um das sich mein Leben in den letzten Monaten ständig gedreht hat und dessen momentan sehr unsicher erscheinende Zukunft ich gebannt verfolgen werde:

Brasilien, ich komme wieder.