»Ich werde ein Buch lesen«

»Ich werde ein Buch lesen«

Vor acht Jahren erlebte Deutschland einen WM-Sommer, der das Land veränderte – ein Stück weit zumindest. Für viele kaum vorstellbar, bei diesem Ereignis nicht dabei gewesen zu sein. In Brasilien beginnt in rund zwei Monaten eine WM, vor der die fußballerische und gesellschaftliche (An-)Spannung kaum größer sein könnte. ecke:sócrates hat sich mit jungen Brasilianern unterhalten, die ausgerechnet diesen Sommer nicht in ihrem Heimatland verbringen werden.

Geanmarcos Garcia Terra ist sich sicher. Und so kann man seine Antwort schon während der Frage am Rollen seiner Augen ablesen. »Bei dieser durchkommerzialisierten Show dabei sein? Nein, danke.« Der 20-jährige Student bezeichnet sich als entschiedenen Gegner der WM in seinem Heimatland Brasilien. Er mag den Fußball als Sport, aber im Fernsehen oder im Stadion schaut er ihn nie. »Der Fußball und vor allem die WM sind für Leute mit Geld gemacht, da wird von vorneherein ein großer Teil der Gesellschaft ausgeschlossen.«

Geanmarcos ist daher froh, ausgerechnet diesen Sommer ein Stipendium für ein Semester in Argentinien bekommen zu haben. Für die Zukunft hat er große Pläne, möchte Professor im Bereich Kommunikationswissenschaften werden und sich politisch weiter in der PT, der Partei von Präsidentin Dilma Rousseff, engagieren. Es mutet paradox an: Er ist WM-Gegner, aber kein Gegner der brasilianischen Regierung.

Wie Geanmarcos geht es vielen jungen Brasilianern, die an der Universidad Nacional de Cuyo in Mendoza, Argentinien ihr Auslandssemester verbringen. Für nichts in der Welt würden sie diese Chance eintauschen, schon gar nicht für die Weltmeisterschaft im eigenen Land.

Kann mit der WM nichts anfangen: Geanmarcos Garcia Terra (Bild: T. Zwior)

Kann mit der WM nichts anfangen: Geanmarcos Garcia Terra (Bild: T. Zwior)

Zildmara Rodrigues, ebenfalls 20 Jahre alt, spricht einen weiteren Punkt an, den man so oder so ähnlich schon seit geraumer Zeit immer wieder aus Brasilien hört: »Als Brasilien 2007 als Gastgeber ausgewählt wurde, dachten viele, das sei gut für das Land. Es gäbe mehr Investitionen in die Infrastruktur. Aber die Investitionen flossen fast alle in die Stadien oder verschwanden in den Taschen der Elite.«

Der Musikstudentin aus São Paulo vergeht ihr sonst so warmes, herzliches Lachen, wenn sie an die WM denkt. Ernüchtert stellt sie fest: »Ich war 2013 gemeinsam mit meinen Freunden bei den Demonstrationen dabei. Nichts hat sich seitdem geändert. Müsste ich während der WM in Brasilien sein, würde mich das nur traurig machen.«

Investitionen ins Bildungssystem statt in eine WM fordert die angehende Musiklehrerin Zildmara Rodrigues (Bild: T. Zwior)

Investitionen ins Bildungssystem statt in eine WM fordert die angehende Musiklehrerin Zildmara Rodrigues (Bild: T. Zwior)

Die Frage, ob sie denn während der WM nicht lieber in ihrem Heimatland sein wolle, werde ihr ständig gestellt, sagt Ana Ligia Alcarás. »Dabei war ich noch nie begeistert von der WM. Keiner meiner Familie oder Freunde wird hingehen und sich ein Spiel anschauen.« Die 21-Jährige studiert an der Universidade Estadual Paulista in der Nähe von São Paulo Internationale Beziehungen und möchte später einmal als Diplomatin die Beziehung Brasiliens zu den anderen Ländern Lateinamerikas verbessern.

An der brasilianischen Innenpolitik hingegen lässt sie kein gutes Haar. »Brasilien ist ein Land mit großem wirtschaftlichem Potenzial, aber die Politik schafft es nicht, das Land zu organisieren, die Gelder vernünftig zu verteilen.« Das liege zum Teil an der Größe des Landes, aber eben auch an wahnwitzigen Projekten, wie der WM, die von Korruption und Misswirtschaft geprägt seien. Ana hat sich nun warm geredet und setzt noch einen drauf: »Am schlimmsten ist die Fußballpropaganda in fast allen großen Medien Brasiliens, die im Vorfeld des Turniers versucht den Verstand der Leute zu vernebeln. Auch deswegen bin ich froh diesen räumlichen Abstand von der WM zu haben.«

Hat keine Lust auf Fußballpropaganda und möchte ihr Land später einmal als Diplomatin vertreten: Ana Ligia Alcarás (Bild: T. Zwior)

Hat keine Lust auf Fußballpropaganda und möchte ihr Land später einmal als Diplomatin vertreten: Ana Ligia Alcarás (Bild: T. Zwior)

André Santos aus Maringá studiert Ökonomie. Als angehender Volkswirt zeigt auch er sich enttäuscht über die verpasste Chance, durch die WM einen Aufschwung zu bewirken: »Der Fußball ist ein Multiplikator von Geld und hätte in unserem Land viel Gutes bewirken können – wenn das Geld denn in die richtigen Projekte fließen würde.« Dass der Großteil der Baumaßnahmen für die WM vom Staat und somit vom Steuerzahler getragen werde – und nicht zum Beispiel von der Fifa – findet der 24-Jährige grotesk.

»Ich habe keine Sekunde darüber nachgedacht, ob es schade sei, während der WM nicht in Brasilien zu sein. Das sagt alles.« Ignorieren werde er die WM trotzdem nicht: »Ich werde die Spiele der Seleção im Fernsehen verfolgen und auch über die sozialen Medien mit meinen Freunden Kontakt halten. Denn es wird so gut wie sicher wieder Demonstrationen geben.«

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Diego Gomes, Geanmarcos Garcia Terra und André Santos genießen das Auslandssemester auf dem Campus der Uni in Mendoza (Bild: T. Zwior)

Ein Thema, das bei den Demonstrationen in Brasilien immer wieder angeprangert wird, ist die Korruption. »Es ist ein offenes Geheimnis, dass eine Großveranstaltung wie die WM die ideale Spielwiese für korrupte Politiker, Funktionäre oder Unternehmer ist«, sagt Tanise Ceron eine 20-jährige Anglistik-Studentin aus der südlichen Küstenstadt Floreanópolis. Sie selbst habe in ihrem noch jungen Leben schon häufiger mit Korruption zu tun gehabt.

Das fange schon im Kleinen an. So seien zum Beispiel Fördermittel vom Staat für eines ihrer Stipendien niemals bei ihr angekommen – sondern irgendwo in ihrer Uni »verschollen«. »Wenn ich mir vorstelle, dass so etwas bei der WM in großem Stil passiert, wird mir schlecht. Aus diesem Grund hatte ich noch nie Sympathien für die WM und will nichts mit dieser Veranstaltung zu tun haben.«

Möchte ihr Studium in England fortsetzen: Tanise Ceron (Bild: T. Zwior)

Möchte ihr Studium in England fortsetzen: Tanise Ceron (Bild: T. Zwior)

Der Einzige, bei dem zumindest ein Funken Wehmut zu spüren ist, ist Diego Gomes. Er ist 27, studiert Ingenieurwesen und wird von allen nur »Marcelo« gerufen, weil er dem gleichnamigen brasilianischen Nationalspieler verblüffend ähnlich sieht. »Ich hätte es schon schön gefunden, während der WM in Brasilien zu sein. Ich mag den Fußball, denn da kommen die Leute zusammen.« Wie zum Beweis zieht er die Flagge seiner Lieblingsmannschaft, eines Drittligavereins aus der Tasche.

„Diese Stimmung, dieses Gemeinschaftsgefühl würde ich gerne miterleben. Natürlich gibt es in Brasilien viele soziale Probleme. Aber die WM ist ein Moment, der wichtig für unsere Gesellschaft sein wird. Den würde ich gern mit meinen Freunden zu Hause teilen.« Trotzdem geht auch bei ihm das Studium vor: »Im Ausland studieren zu können, ist ein großes Privileg, das nur sehr wenige Brasilianer erhalten. Fußball ist eben nicht alles im Leben.«

Der angehende Ingenieur Diego »Marcelo« Gomes mit der Flagge seines Lieblingsvereins (Bild: T. Zwior)

Der angehende Ingenieur Diego »Marcelo« Gomes mit der Flagge seines Lieblingsvereins (Bild: T. Zwior)

Ablehnung, Gleichgültigkeit, Ernüchterung. Diese Gefühle ziehen sich durch den Großteil der Gespräche mit den brasilianischen Studenten. Die Weltmeisterschaft im eigenen Land zu verpassen, bewegt sie kaum.

Geanmarcos bringt es auf den Punkt: Auf die Frage, was er im Falle des sechsten WM-Titels für die brasilianische Nationalmannschaft tun werde, antwortet er ohne mit der Wimper zu zucken: »Das Finale werde ich mir mit Sicherheit nicht anschauen. Ich werde ein Buch lesen.«