»Wenig hat sich geändert«

»Wenig hat sich geändert«

Der Betriebswirt Jan Tonio Schreiber Kruger (Bildmitte, mit Mikrofon), 29 Jahre alt, schreibt seit fünf Jahren in seinem Blog »Caoscarioca« über die Politik und Verwaltung in seiner Heimatstadt Rio de Janeiro. ecke:sócrates hat mit ihm im Nachgang der WM über sein Fazit der Veranstaltung, infrastrukturelle Veränderungen und die Zukunft Rios vor Olympia gesprochen.

(Rio de Janeiro)

ecke: Was waren die Beweggründe dein Blog »Caoscarioca« zu starten?

Kruger: Das waren städtische Probleme, über die ich schon als Privatperson mit den Behörden gestritten habe. Mein Grundgedanke war damals, dass diese Probleme nicht nur mich stören. Daher dachte ich, dass ein Blog diese Probleme sichtbarer machen könnte und so einen viel stärkeren Druck auf die auf die Stadtverwaltung ausüben könnte.

ecke: Was sind das für Probleme und wo setzt du deine Themenschwerpunkte?

Kruger: Historisch gesehen sind das die Themen Mobilität, Wohnpolitik, oder besser gesagt, mangelnde Wohnpolitik, und auch die Verhaltensweisen der brasilianischen Gesellschaft. Ich glaube, die Brasilianer haben noch nicht die Kultur sich selbst ins Problem miteinzubinden. Sie weisen für gewöhnlich die Probleme einem anderen zu. Dem Bürgermeister, dem Gouverneur, der Präsidentin. Aber sich selbst als einen Faktor in die Formel einzubinden, die eventuell zu einem Problem führt, das tun nur die wenigsten.

ecke: Wie sieht dein persönliches Resümee der WM aus, sowohl in Brasilien als auch in Rio?

Kruger: Ich hatte von Anfang an keinen Zweifel daran, dass die Organisation klappen würde. Die Kapazitäten große Events zu hosten haben wir schon seit über 20 Jahren, das haben wir zum Beispiel 1992 bei der Weltklimakonferenz unter Beweis gestellt. Als Fußballfan war die WM super. Allerdings war es auch eine sehr teure WM, meist von Steuergeldern finanziert und ohne, dass die Versprechen, die vor sieben Jahren gemacht wurden, eingehalten wurden. Besonders im Bereich Infrastruktur. Die meisten Investitionen in die Mobilität, die versprochen wurden, sind nicht realisiert worden. Sportlich gesehen sieht es in Brasilien ähnlich aus. Die Idee ist es, dass in der letzten Minute ein »Neymar« auf gut Glück alles verbessert, was über die letzten Jahre hinweg nicht richtig abgearbeitet wurde.

ecke: Was waren die gravierendsten infrastrukturellen Änderungen in Rio im Zuge der WM?

Kruger: Rio ist zurzeit eine große Baustelle, aber das hat nur zweitrangig mit der WM zu tun. Die WM ist nur eine Etappe. Der Grund und die Ausrede für alles ist Olympia 2016. Aber im Grunde genommen werden da Projekte in Gang gesetzt die über die letzten 20, 30 Jahre hinweg einfach nicht realisiert wurden. Zurzeit ist sehr schwer zu sagen, ob all dies sich am Ende positiv oder negativ auswirken wird für Stadt.

ecke: Wie hast du als Carioca (so nennen sich die Einwohner Rios) die WM in deiner eigenen Stadt erlebt?

Kruger: Da ich momentan meine Masterthesis schreibe war ich nicht hundertprozentig dabei. Aber von dem, was ich mitbekommen habe, war die Stimmung klasse. Im WM-Finale war ich sogar im Stadion, das war ein einzigartiges Erlebnis.

ecke: Was wird die FIFA dem Land Brasilien hinterlassen?

Kruger: Hinterlassen wird sie nichts. Das einzige, was wir Brasilianer von der Fifa hätten lernen können, wäre wie man den Fußball wieder interessant für mehr Zuschauer macht. Das ist nämlich das Problem unserer Liga. Sie zieht kaum Menschen an. Allerdings glaube ich, dass der brasilianische Fußball einfach noch nicht weit genug ist, um aus dieser WM positive Lektionen zu ziehen.

ecke: Wie werden sich die WM und das Abschneidens Brasiliens auf die nähere politische Zukunft des Landes auswirken?

Kruger: Die Opposition wird versuchen das Fiasko der brasilianischen 1:7-Niederlage gegen Deutschland auszunutzen, um die Wiederwahl der Präsidentin Dilma Rousseff zu behindern. Das Ergebnis verstärkt den allgemeinen Unmut der Bevölkerung noch und das ist problematisch für die aktuellen Politiker, die auf eine Wiederwahl hoffen.

ecke: Was ist deine Prognose für die Präsidentschaftswahl im Oktober?

Kruger: Die Wahl wird sehr knapp. Aber höchstwahrscheinlich wird Dilma wiedergewählt, obwohl auch die ökonomischen Prognosen immer schlechter werden.

ecke: Wie geht es in Rio de Janeiro jetzt weiter im Hinblick auf Olympia?

Kruger: Obwohl die Beliebtheit des aktuellen Bürgermeisters Eduardo Paes stetig sinkt, weil die ganze Stadt zu einer Baustelle geworden ist, glaube ich, dass Rio de Janeiro nach 2016 grundsätzlich eine bessere Infrastruktur haben wird als zuvor. Der Bürgermeister setzt seine politische Karriere darauf. Allerdings haben wir eine Gesellschaft, die sehr kurzfristig denkt, also stellt sich die Frage, ob er überhaupt von seinen Leistungen politisch profitieren kann.

ecke: In einem deiner Texte schreibst du über »die Kultur des Hinterfragens«, die in Brasilien nicht sehr ausgeprägt sei: Wie schätzt du diese aktuell nach dem Erleben dieser WM ein?

Kruger: Wenig hat sich geändert. Sich einmal auf die Straße zu setzen mit einem Plakat in der Hand, das ist erst ein kleiner Schritt Richtung Mitverantwortung gegenüber dem Staat. Die nächsten Schritte wurden nicht gegangen. Wer etwas fordert, muss auch Verantwortung übernehmen. Diese wird in Brasilien aber weiterhin immer dem Nächsten zugeschoben.