»Sócrates war wichtig für unser Land«

»Sócrates war wichtig für unser Land«

Den 24-jährigen Studenten André Santos und die brasilianische Fußballlegende Sócrates verbindet eine besondere Geschichte. Mit ecke:sócrates hat André über seine Begegnung mit dem Namensgeber dieses Journals und dessen Einfluss auf die brasilianische Gesellschaft – damals wie heute – gesprochen.

 

ecke: André, du hast Sócrates als Kind getroffen. Wie kam es dazu?

André: Ich war damals zehn oder elf Jahre alt und ging zur Schule. Eines Tages sagte mir meine Mutter, die Lehrerin an meiner Schule war, dass es beim diesjährigen Schulfest einen Ehrengast geben würde: Sócrates. Als der Name fiel, kam mein Vater plötzlich völlig entgeistert aus dem Nebenraum hereingestürmt und konnte es kaum fassen. Mein Vater ist schon sein ganzes Leben lang Fan von Corinthians São Paulo. In den 80er Jahren, als Sócrates dort seine große Zeit hatte, war seine Leidenschaft am größten. Sócrates war bei uns im Haushalt allgegenwärtig. Mein Vater schwärmte mir stets von dessen brillanter Spielweise, seinen Pässen und der großartigen Nationalmannschaft von 1982 vor. Von daher war ich auch sehr begeistert diesen Spieler zu treffen, auch wenn ich das damals noch nicht so richtig einordnen konnte.

ecke:  Wie verlief deine Begegnung mit Sócrates?

André: Sócrates hat sich an dem Tag viel Zeit für uns Schüler genommen. Erst hat uns erst etwas erzählt, an das ich mich leider nicht mehr erinnern kann, aber dann nahm er uns relativ schnell mit auf den Sportplatz. Dort zeigte er uns wie man den Ball richtig schießt, sodass er gleichzeitig hart und platziert aufs Tor kommt. Alle waren begeistert von ihm. Und ich hatte besonderes Glück. Meine Mutter hat es irgendwie organisiert, dass ich nachher noch eine Weile mit Sócrates im Auto mitfahren durfte. Von den Straßenrändern haben ihm hunderte Leute zugejubelt. Und das, obwohl seine aktive Karriere schon mehr als 10 Jahre zurücklag.

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Die Begegnung: André mit Sócrates auf dem Bolzplatz (Bild: privat)

ecke: Welche Wirkung hatte Sócrates auf dich?

André: Eine große. Seine Ausstrahlung auf Menschen war enorm. Das hat man schon als Kind gemerkt. Und ich habe mich nach dem Treffen mehr und mehr für seine persönliche Geschichte interessiert. Der Fußball war ja nur eines seiner Talente. Viel wichtiger waren ihm seine politischen Ideale und seiner Arbeit als Kinderarzt. Dafür hat er sogar die WM 1978 sausen lassen. Zu der Zeit wollte ich eigentlich wie jeder andere Junge in Brasilien unbedingt Fußballspieler werden. Aber Sócrates´ Geschichte hat mir klargemacht, dass man auch in anderen Berufen ein Vorbild sein kann. Das hat viele Dinge in meinem Leben verändert. Seitdem war es mein großer Traum zu studieren, was ich jetzt auch tue.

ecke: Welche Bedeutung hatten Sócrates´ politische Tätigkeiten für die brasilianische Gesellschaft?

André: Sócrates war sehr wichtig für unser Land. Er hat zu Zeiten der Militärdiktatur in seiner Mannschaft erste basisdemokratische Strukturen mitentwickelt. Das, was später unter dem Namen Democracia Corinthiana bekannt wurde. Durch seine Bekanntheit als Fußballer hat er damit nach und nach große Teile der Bevölkerung erreicht. Er hat geholfen viele Menschen zu politisieren. Somit würde ich ihn als einen Wegbereiter der Demokratie bezeichnen.

ecke: Die WM 2014 kann der 2011 verstorbene Sócrates nicht mehr erleben. Schon kurz nach der WM-Vergabe 2007 wurde er in einem Interview u. a. mit folgenden Sätzen zitiert:

»Viele Menschen werden mit der WM reich werden, aber nicht unser Land.«

Und:

»Eigentlich haben wir ja schon genug Karneval hier. Da brauchen wir nicht noch mehr, denn die WM wird ein 30 Tage langer Karneval werden. Die Brasilianer sind natürlich super drauf, wenn es ums Feiern geht. Das Land wird für 30 Tage stillstehen. Den ganzen Juni über Ferien. Aber danach, was wird bleiben? Welchen Gewinn im sozialen Bereich wird man erzielen?«

In einem weiteren Interview sagte er 2009:

»Die soziale Situation in diesem Land ist einfach dramatisch. Auf irgendeine Art und Weise müssen wir also versuchen diese Situation zu ändern. Ich kämpfe eigentlich ständig dafür, ich sehe es als meine Pflicht.«

Sätze, gesagt zu einer Zeit als die Euphorie und Vorfreude auf die WM 2014 in Brasilien noch um einiges größer waren als aktuell. Würden wir Sócrates während der WM auf der Straße bei sozialen Protesten mitmischen sehen?

André: Da bin ich mir ziemlich sicher. Sócrates würde an dieser WM kein gutes Haar lassen und keine Ruhe geben. Das entspräche nicht seinem Naturell. Er und seine Ideen leben in unseren Gedanken weiter.

14 Jahre später: Andrés Begegnung mit ecke:sócrates

14 Jahre später: André im Interview mit ecke:sócrates (Bild: D. Gomes)