Von Freibier und Blechschäden

Von Freibier und Blechschäden

Johannes Gerlach, ehemaliges Mitglied des sächsischen Landtages (SPD) lebt seit mehreren Jahren als Energie- und Klimaberater in Santa Catarina, Brasilien. Das politische Geschehen vor Ort verfolgt er genauestens. Im Interview mit ecke:sócrates spricht er über Brasiliens aktuelle politische Situation im WM- und Wahljahr, den Vertrauensverlust in der Bevölkerung und auffällige Parallelen zur DDR.

ecke: Herr Gerlach, Brasilien hat 2014 politisch bewegende Ereignisse vor sich. Die WM im Juni/Juli und kurz darauf die Wahl im Oktober. Wie schätzen Sie die aktuelle politische Situation in Brasilien ein?

Gerlach: Nach den Protesten und Demonstrationen rund um den Confederations Cup 2013 ist der Nationalkongress, bestehend aus Senat (Senado Federal) und Abgeordnetenkammer (Câmara dos Deputados), ein wenig in Schwung gekommen. Aber die grundlegenden Änderungen, die eigentlich nötig wären, um das Land zu verändern, sind nicht geschehen. Das Thema Korruption zum Beispiel ist weiterhin tabu.

ecke: Können Sie “in Schwung kommen” präzisieren?

Gerlach: Sowohl der Senat als auch die Abgeordnetenkammer haben nach einer gewissen Zeit der Schockstarre dann einige Projekte relativ schnell gemacht. Jedoch nur unter dem Druck der Straße. Dazu zählen die sogenannte »Cura Gay«, ein Gesetz, das Homosexualität als Krankheit definiert hat, das abgeschafft wurde. Auch eine Verfassungsänderung, die Politikern und Polizisten weitestgehende Straffreiheit gewährt hätte, wurde zurückgenommen. Aber wie gesagt, die eigentlichen Grundlagen einer Demokratie, zum Beispiel das Wahlsystem, die Machtverteilung oder das Verhältnis zwischen Politik und Medien werden zwar thematisiert, aber dann nur untereinander hin und her geschoben.

ecke: Sie sprechen das Wahlsystem an. Was sind dessen Schwächen?

Gerlach: Das Wahlsystem ist hochproblematisch. Zunächst gibt es nicht wie in Deutschland eine Fünf-Prozent-Hürde, das heißt jede Partei kann theoretisch in das Parlament einziehen. Dazu gibt es eine große Parteienvielfalt. Es gibt so viele Parteien, dass es nur sehr schwer zu überblicken ist, welche Partei wofür steht und welcher Politiker für welche Partei antritt. Das führt in Brasilien zum sogenannten »Dança das Cadeiras«, einem buchstäblichen Tanz der Sitze. Die Politiker wechseln so oft die Parteien wie in keinem anderen Land. Manchmal innerhalb weniger Stunden. Außerdem gibt es keine Wahlkreise, sondern die Kandidaten treten bei einer Wahl pro Bundesland an, was zu einem sehr teuren und sehr unpersönlichen Wahlkampf führt. Der wird außerdem mit unsauberen Mitteln wie eben Korruption geführt. Ein Abgeordneter hat sogar einmal eine Wahl durch den großflächigen Ausschank von Freibier gewonnen.

ecke: Sie erwähnten die Protestbewegungen im letzten Jahr. Wie haben Sie diese miterlebt?

Gerlach: Auch in meiner Kleinstadt gab es Demonstrationen, die zahlenmäßig äquivalent zu den großen Epizentren abliefen. Bei einer Größe von 20.000 Einwohnern waren bei uns dann rund 100 Leute auf der Straße. Hauptsächlich habe ich die Proteste aber durch die Medien miterlebt.

ecke: Wie würden Sie die Berichterstattung in den brasilianischen Medien beschreiben?

Gerlach: Da war vor allem in den großen Medien in dieser Zeit ein eigenartiger Prozess zu beobachten: Anfangs wurden die Proteste für mindestens eine Woche lang schlicht ignoriert oder wenn überhaupt als Jugendbewegung abgetan. Zu einem Umdenken der Medien hat dann aber die massive Polizeigewalt vor allem in Rio und São Paulo geführt, mit der auch gegen Medienvertreter wie Journalisten und Kameramänner vorgegangen wurde. Das war oft wahllos und sehr brutal. Und dann sprang der Funke von den sozialen Medien doch ziemlich schnell auf die traditionellen Medien über.

ecke: In einem Ihrer Vorträge haben Sie das aktuelle Brasilien mit der DDR in der Zeit kurz vor der Wende verglichen, die sie auch selbst miterlebt haben.

Gerlach: Ja, in der DDR hatte sich etwas zusammengebraut, was auf einmal sehr schnell explodiert ist. Da meldeten sich plötzlich Leute zu Wort, die höchstens mal im Park oder zu Hause »Scheiß Honecker« gesagt haben. Die Angst vor dem System, vor den Repressionen des Systems war plötzlich weg. Da sehe ich in Brasilien eine Parallele zu den Montagsdemos. Auf einmal sind Zehntausende auf der Straße und trauen sich etwas zu sagen, trotz Polizei.  In der brasilianischen Gesellschaft entdecke ich allerdings immer wieder auch Dinge, die mir unangenehm bekannt vorkommen.

ecke: Zum Beispiel?

Gerlach: Nehmen wir zum Beispiel den Öffentlichen Dienst. Das fängt schon bei der Post an, deren Mitarbeiter staatliche Beamte sind. Dort beschleicht mich immer wieder das Gefühl: Die wissen, dass ich etwas von ihnen möchte und das zeigen sie mir dann auch. Die Beamten kommen nicht mir zuvor, indem sie mir ihren Service anbieten, sondern ich als Kunde störe deren Tagesablauf. Diese Einstellung zieht sich in Brasilien durch viele Servicebereiche und  ist vor allem auch in der Handwerksbranche verbreitet.

ecke: Ist dies auch ein Grund für den immensen Vertrauensverlust der Brasilianer in nahezu alle Institutionen?

Gerlach: Absolut. Es ist nicht nur das Vertrauen in naheliegende Institutionen wie Polizei, Banken, Kirche, Militär oder die Medien erschüttert, sondern zum Beispiel auch in Sozialverbände oder sogar in die Feuerwehr. Ein derartiger Vertrauensverlust ist der Tod der Demokratie. Die Leute versuchen lieber ihre Angelegenheiten irgendwie selbst zu klären. Denn am Ende, so der Tenor, ist man als Bürger immer der Angeschmierte. Ich hatte zum Beispiel einmal einen kleinen Verkehrsunfall. Mir ist jemand ins Auto reingefahren, es war seine Schuld, aber er wollte nicht für den Schaden aufkommen. Da habe ich eine brasilianische Frau, die dabei war, gebeten als Zeugin auszusagen. Sie sollte nur sagen, was sie gesehen hat. Aber sie entschuldigte sich mit der Aussage, das könne sie nicht tun, sie habe ja Kinder…Und da ging es nicht um Drogen oder Mord, sondern um einen Blechschaden.

ecke: Zurück zur Politik: Welchen Einfluss wird die WM auf die kurz darauffolgende Wahl in Brasilien haben?

Gerlach: Keinen nennenswerten, bis auf den, dass alle Welt kurz vor der Wahl nach Brasilien schaut. Zum Beispiel hat Brasilien pro Jahr 50.000 Verkehrstote. Das hat vorher niemanden interessiert. Jetzt interessiert das auch internationale Medien. Aber ich bezweifle ansonsten den direkten Einfluss, den die WM auf die Wahl haben wird. Es wird wohl eher wieder sein wie so oft schon zuvor: Der Politiker, der sich mit dem besten Fußballer zeigen kann, hat sein Bild in der Zeitung sicher.

ecke: Die Aktiven der Protestbewegungen gegen Ungleichheit, Korruption, das versagende Bildungs- und Gesundheitssystem lehnen bisher alle Parteien rigoros ab, sind unorganisiert und es herrscht eine gewisse Stagnation. Können sie dennoch aus dieser Position heraus langfristig etwas ändern?

Gerlach: Sie können weiterhin den Finger vehement in die Wunde legen. Aber irgendwann werden Sie sich entscheiden müssen, bei welcher Politik sie sich aufgehoben fühlen. Es gibt auch in der offiziellen Politik Leute, die etwas ändern wollen…

ecke: …wie zum Beispiel den ehemaligen Fußballweltmeister Romario, der gerade seine Kandidatur für den Senat bekannt gegeben hat und die Kosten der WM schon länger als Kernproblem betrachtet…

Gerlach: …oder auch die parteilose Marina Silva, eine bekannte Politikerin aus dem grünen Spektrum. Aber ich sehe da momentan noch nicht die Mehrheiten. Fest steht: Das Land hat angefangen sich zu bewegen, aber es hat noch einen weiten Weg vor sich.

ecke: Erwarten Sie aufgrund der politischen Spannungen einen Interessensverlust der Brasilianer an der Fußball-WM?

Gerlach: Auf keinen Fall. Die Brasilianer können und werden den Fußball nicht ignorieren. Die Stadien, Bars und Sofas vor dem Fernseher werden voller denn je sein. Und die Kinder werden auch dieses Jahr während der Spiele der Seleção Schulfrei haben.