»Wie ein Mensch zweiter Klasse«

»Wie ein Mensch zweiter Klasse«

Seit Beginn der WM arbeitet Brenno als VIP-Betreuer im Stadion von Belo Horizonte. Er verachtet die realitätsferne Welt in den Logen, braucht aber andererseits dringend das Geld. Vom spieltäglichen Zwiespalt eines jungen Brasilianers.

(Belo Horizonte)

An Spieltagen steht Brenno schon morgens um sechs Uhr auf. Noch schlaftrunken wirft er sich in seine Dienstkleidung, hängt sich das Namensschild um und macht sich zu Fuß auf den Weg zum Stadion. Sein Job nennt sich »Match Venue Supervisor«. Sein Arbeitsort ist das Estádio Mineirão in Belo Horizonte. Seinen Arbeitgeber möchte Brenno, der eigentlich anders heißt, nicht nennen. Es ist ein multinationales Unternehmen, einer der Hauptsponsoren der WM 2014.

Brenno ist 23 und studiert Chemieingenieurswesen an der Uni in Belo Horizonte, die unweit des Stadions liegt. Als er 2007 davon erfahren hat, dass die WM in Brasilien stattfinden würde, war ihm klar, dass er Teil des Ganzen sein wollte. »Ich wollte mithelfen, dass dieses Event ein Erfolg wird, für unser Land und auch für alle Besucher. Sein Wunsch hat sich erfüllt. Allerdings nicht ganz so, wie er sich das vorgestellt hat. Wie bei vielen anderen Brasilianern hat sich sein Blick auf die WM in den letzten Wochen und Monaten gewandelt. »Dass ich einmal für einen der Hauptsponsoren arbeiten würde, hätte ich nicht gedacht.«, sagt er.

Was verbirgt sich hinter dem sperrigen Begriff des »Match Venue Managers«? »Mein Arbeitgeber fliegt zur WM eine Menge Leute ein. Das können Manager, Verwandte und Bekannte von hochrangigen Mitarbeitern oder Gewinnspielsieger sein. Sie wohnen in Hotels in Rio oder São Paulo und werden dann an Spieltagen zu den jeweiligen Spielorten geflogen. Meine Aufgabe ist es, sie vom Flughafen abzuholen und sie dann zu ihrer Lounge oder zu den Sitzen zu bringen. Ich bin danach den ganzen Tag für sie da, also eine Art Mädchen für alles.«

Der Blick aufs Spielfeld aus der Loge heraus (Bild: privat)

Der Blick aufs Spielfeld aus der Loge heraus (Bild: privat)

Letzte Woche stand Brenno kurz davor den Job hinzuschmeißen. Anders als bei den vorherigen Spielen, hatte er an diesem Tag in der Lounge Dienst, in der sich die Gäste mehrerer Sponsoren, aber auch die Inhaber teuer VIP-Tickets aufhielten. »Einige der anwesenden Gäste haben uns Mitarbeiter behandelt wie Menschen zweiter Klasse«, sagt er. Ein Mann zum Beispiel habe Brenno angeschrien und gerufen, er solle doch aus dem Weg gehen. Schließlich habe Brenno nicht für sein Ticket bezahlt, er selbst jedoch schon.

Wenig später trank Brenno mit einem Kollegen ein Glas Wasser und wurde daraufhin von einer Logen-Supervisorin zurechtgewiesen, das doch bitte zu unterlassen. Die Gäste könnten es schließlich sehen. »Wenn es mir als Mensch noch nicht einmal erlaubt ist vor anderen Menschen etwas zu trinken, zähle ich dann noch als gleichwertiger Mensch?«, fragt er sich. Die Atmosphäre in den Logen und VIP-Bereichen des Mineirão beschreibt er als unangenehm. Mehrmals schon habe er mitbekommen, dass junge Mitarbeiterinnen von Männern in den Logen belästigt wurden. Bei anzüglichen Worten sei es da seiner Aussage nach nicht geblieben.

All diese Vorfälle warfen Brennos Zweifel wieder auf, die er vor Beginn des Jobs schon gehabt hatte: »Die Menschen für die ich gerade arbeite, sind genau die Menschen, die meine Freunde und ich eigentlich verachten. Es sind zum einen die Sponsoren, die für diese elitäre Veranstaltung »WM« mitverantwortlich sind und zum anderen diejenigen privilegierten Brasilianer und Touristen, die die WM am Ende konsumieren.« Dann erzählt er von einem Video (siehe unten), das sich momentan in seinem Freundeskreis viral verbreitet und einige der Gäste in den Logen seiner Meinung nach treffend darstellt. Es macht ihn wütend.

Doch Brenno macht weiter. Es ist das Geld, das ihn seinen ersten Kündigungsimpuls unterdrücken lässt. Normalerweise gibt er neben dem Studium Nachhilfe und kommt damit gerade so über die Runden. Doch einen derart lukrativen Job wie seinen aktuellen hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht: »Ich müsste zweieinhalb Jahre arbeiten, um das Geld zu verdienen, was ich hier in einem Monat bekomme«, sagt er. »Ich mache nächstes Jahr meinen Abschluss und möchte danach ins Ausland. Ich muss an meine Zukunft denken.«

Brennos Arbeitsplatz am Morgen vor dem Spiel England gegen Costa Rica (Bild: privat)

Brennos Arbeitsplatz am Morgen vor dem Spiel England gegen Costa Rica (Bild: privat)

Mittlerweile hat er eine Strategie gefunden mit dem inneren Zwiespalt umzugehen: Eine Kombination aus Schönreden und Verdrängung: »Ich lerne in diesem Job ja eine ganz neue Perspektive kennen, sehe Dinge, die mir sonst verborgen geblieben wären. Über meinen Arbeitgeber kann ich mich nicht beklagen, er ist einer der besseren. Und außerdem bin ich hautnah bei einem Ereignis dabei, das momentan die ganze Welt bewegt und kann sogar in den Arbeitspausen die Spiele verfolgen.«

In Momenten, wie dem vor einer Woche, in denen selbst das Schönreden nicht hilft, schaltet er seinen Kopf aus. »Wenn ich viel darüber nachdenken würde, würde ich nicht mehr gut arbeiten. Ich habe meinem Arbeitgeber aber versprochen, mein Bestes zu geben und dazu stehe ich«, sagt er. »Ich weiß, dass diese Strategie nicht gut ist und es gibt Freunde, die mich dafür kritisieren. Aber sie funktioniert.«

Das Ende von Brennos WM-Abenteuer ist ohnehin in Sicht. Nur noch einmal, am 8. Juli, muss er die Fassade aufrechterhalten. Wie an jedem Spieltag wird er dann, am Tag des WM-Halbfinales, abends die Firmengäste zurück zum Flughafen bringen, sein Diensthemd aus der Hose ziehen und zurück zum Studentenwohnheim gehen. »Immer wenn ich nach Hause komme, fühle ich mich wie in einer anderen Welt.« Er ist sich sicher, dass das die Welt ist, der er auch in Zukunft angehören möchte.