Sind wir alle eins?

Sind wir alle eins?

Während der WM herrscht in Belo Horizonte nicht nur heute, am Tag des Halbfinals Brasilien gegen Deutschland, Ausnahmezustand. Ein einheimischer Student nimmt diesen zum Anlass für einen konflikttheoretischen Essay.

Ein Gastbeitrag von João da Mata

Belo Horizonte am 28. Juni 2014. Brasilien spielt gegen Chile. Um den regen Verkehr von Menschen und Fahrzeugen in einigermaßen geregelten Bahnen fließen zu lassen, erwies sich der proklamierte städtische Feiertag als sehr nützlich. Denn das vor einem Monat völlig neu implementierte Transportsystem wird selbst mit dem normalen täglichen Aufkommen der Einwohner zu Nicht-WM-Zeiten nicht annähernd fertig, obwohl die kürzliche Änderung des Systems mit R$ 730 Millionen (ca. 240 Millionen Euro) zu Lasten der Staatkasse zu Buche schlug. Aber alles ist gut. Die überwiegende Mehrheit der Fans sieht das dramatische Spektakel aus der Ferne an. Zwischen den Spielen verklären die Werbungen, dass alle Herzen an einem einzigen Ort sind, und, dass die Brasilianer ihre Liebe an den Stollenschuh binden sollen. Immerhin sind wir alle eins. Oder?

Zwei Tage darauf wird das Elfmeterschießen am Ende des dramatischen Spieles zum unzähligen Male im Fernsehen wiederholt. In der am Meisten gesehenen Morgensendung wird darüber eine beinahe philosophische Diskussion geführt, während Internetaktivisten ihre eigenen Thesen publizieren: Ist es ein Zeichen von Schwäche, wenn ein Mann weint? Es geht darum, dass einige “bedeutende” brasilianische Fußballspieler geweint haben, als sie das Spiel mit dem letzten Elfmeter gewonnen haben. Als ob dies ein extrem gemeinnütziges, wichtiges und allgemein interessierendes Thema wäre. Mit Sympathie und in einem familiären Klima moderiert die Gastgeberin die Redebeiträge an. Sie, eine Musikband, das Publikum und Sportkommentatoren nehmen an der regen Diskussion über das “von der WM-Stimmung Gerührtsein” teil.

Seitdem die Weltmeisterschaft begonnen hat, erscheinen regelmäßig Sportkommentatoren und sogenannte Experten in allen Sendungen, um ihre ,,Expertenmeinung” kundzutun. Bei einer solchen Gelegenheit erklärt ein ehemaliger Spieler, der während der WM in Deutschland 2006 gespielt hat, dass er die Nationalhymne vor einem WM-Spiel geradezu schrie. “Wer nichts fühlt, glaube ich, hat keine Ahnung von Verantwortung.” Solange die Leistung der Spieler nicht beeinträchtigt wird, gäbe es keine Schwäche. Eine vermeintliche Tatsache, die übrigens 91% der Internetnutzer ebenso wie die in der Sendung Anwesenden verstanden. Wer würde nicht von dem Gefühl der Stärke und Einheit gerührt sein, wenn die Nationalhymne gesungen wird? Und wie könnten die Spieler sich davon freisagen, die solch einen Druck zu erleiden haben? Vor allem der Torwart, ein wahrer Held, der 200.000.000 Brasilianer förmlich getragen hat! Es geht um etwas “Grausames”, so die Moderatorin.

Diese Sendung wird aber nicht über die Repressalien und Grausamkeiten sprechen, welche die vernachlässigbare Masse von ca. 100 “Schuften” am 28. Juni 2014 ebenfalls in Belo Horizonte zu erleiden hatte. Was eigentlich vorhersehbar ist, wenn man sich an die Bedeutung des Wortes Schuft auf Portugiesisch und seiner Herkunft aus dem Lateinischen erinnert: Schuft heißt auf Portugiesisch “Vilão”, was vom lateinischen “Villanus” abstammt. “Villanus” ist derjenige, der aus einer “Villa” (lat.) kommt, einem abgeschmackten Vorort der römischen Peripherien, der gar nichts mit der deutschen Bedeutung vom “großen, herrschaftlichen Landhaus“ zu tun hat. Der ehemalige römische Villanus und der zeitgenössische brasilianische Vilão wurden und werden immer noch aufgrund ihres niedrigen sozioökonomischen Status oft der Übeltaten und Verbrechen bezichtigt.

“Vila” und “Favela” sind heutzutage auf Portugiesisch gleichbedeutend und werden synonym verwendet, um ärmliche Peripherien zu bezeichnen. Mit anderen Worten sind die Villanī seit dem alten Rom diejenigen, welche von “außen” kommen, um das gesellige Treiben im Zentrum zu stören. Seither verdienen die “Bösewichte”, (“Villanī”), keine lobenswerte Aufmerksamkeit. Dies geht so weit, dass aktuell, am 26. Juni 2014 in Brasilien, ihr Menschenrecht auf Freizügigkeit aufgehoben wurde. Dieses Mal jedoch mit der direkten Unterstützung der Judikative. Nicht mit der bloßen willkürlichen Ausübung der Militärmacht, wie an den “normalen” Tagen. Vor genau einem Jahr war es übrigens anders – was nicht “besser” bedeutet.

 

Die Ausnahmestadt

Belo Horizonte, am 26. Juni 2013. Brasilien spielt gegen Uruguay. Die Medien sprechen diesmal aber über die 50.000 Personen, die an einer historischen Demonstration teilnehmen. Einer von ihnen wird auf der Flucht vor der Staatsterrorismustaktik nach FIFA-Standard sterben. Es waren Menschen, die sich auf so vielfältige Weise entrechtet, misshandelt und entwürdigt fühlen, dass sie nicht anders konnten, als sich zu widersetzen. Als einen dieser Gründe kann man die Aktionen der FIFA und der Militärpolizei hervorheben: die Akteure, welche genug Macht haben, um einen “Ausnahmenzustand” zu deklarieren.

Die Militärpolizei sichert zwei Arten von Versammlungen: eine für die Villanī und die andere für Fußballfans, die sich entschieden haben, der Party beizuwohnen. Alle ihre Schutzpolitikanstrengungen sind jedoch allein auf die Durchführbarkeit großer Veranstaltungen und Aktionen ausgerichtet, bei denen das “reine”, staatskonforme Austragen und der politisch gewollte reibungslose Ablauf das Wichtigste sind.

In dieser Absicht sind Häuser in brasilianischen Favelas beispielsweise plötzlich markiert und geräumt worden, vergleichbar den Beschmierungen und Evakuierungen jüdischer Häuser und Geschäfte in der Vergangenheit. Viele Menschen wurden im Rahmen der Vorbereitungen der Weltmeisterschaft gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Sie erhielten für diese ungewollte Umsiedelung eine unwürdige Entschädigung, die aus dem Marktwert berechnet wurde, welche Bebauung dort vorherrschte. Villanī wurden in diesem Zuge in andere “Villen” (Slums) deportiert, in denen das Entschädigungsgeld reichte, um einen Platz zum Leben zu bekommen. Diese waren jedoch weit entfernt von ihrer Arbeit und der Schule ihrer Kinder. Aber wer kann sich dem “Fortschritt” wiedersetzen?

Die Rolle der Militärpolizei ist es, Privilegien durch die Schaffung des “Ausnahmezustandes” zu verteidigen. Das heißt im Klartext, die Rechtsstaatlichkeit aufzuheben, um Ungleichheit aufrecht zu erhalten. In einem Rechtsstaat darf keine Person gegen ihren Willen aus ihrem eigenen Haus entfernt werden. Aber wenn er die Wirkung des Ausnahmenzustandes erleiden muss, hat der Mensch seine politische Existenz verwirkt, er wird auf seine bloße biologische Existenz reduziert.

Das Konzentrationslager ist keine Anomalie der Vergangenheit. Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt. Man kann daraus den paradoxen Status der Favelas in ihrer Eigenschaft als “Ausnahmestadt” herleiten, weil sie die Materialisierung des Lagers darstellen: den Raum, der außerhalb der normalen Rechtsordnung gesetzt wird. Ein Hybrid von Recht und Faktum, in dem jede Frage nach der Legalität und Illegalität dessen, was dort geschieht, schlicht sinnlos wird.

Was die FIFA gemacht hat, war, die Ausnahmestadt außerhalb der Peripherien – oder innerhalb der Städte – nachdrücklich zu verdrängen. Was haben oder hatten Südafrika, Brasilien, Russland und Katar gemeinsam zu der Zeit, in der sie als WM-Gastgeber ausgewählt wurden? Eine schwache gesellschaftspolitische Aufsicht, viel Korruption, sowie eine schlechte Sozialmobilisierung. Was die Einwohner solcher Länder wollten, war eine faire Verteilung von Profiten und Rechten.  Das Konzept der FIFA basiert aber nicht auf der Heiligkeit des menschlichen Lebens, sondern auf der Heiligkeit des privaten Eigentums. Vorzugsweise ihres eigenen und dem ihrer Komplizen. Daher drehen sich ihre Fragen um die WM in Brasilien um Themen wie: Wie viele und welche Aktivisten müssen präventiv verhaftet werden, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden?

Dieses Modell von Politik, die eine Stadt zum Unternehmen zu verwandeln beabsichtigt, und die letztlich eine Ausnahmestadt ermöglicht, hat genügend Mobilisierungsfaktoren erzeugt, um so viele Leute am 26. Juni 2013 auf der Straße zu versammeln. Menschen wollen ihre Rechte. Mit deren sozialer Erfüllung könnten sie rechnen, wenn sie als vollwertiges Mitglied des Gemeinwesens akzeptiert werden würden, und an dessen institutioneller Ordnung sie gleichberechtigt partizipieren könnten. Die moralische Zurechnungsfähigkeit der Mehrheit wird ihr aber nicht in demselben Maße zugebilligt, wie sie den Unternehmern, der FIFA und Politikern zuteilwird. Und wie kann man die Aufrechterhaltung einer ungerechten Ordnung gewährleisten, wenn das Volk sich widersetzt?

Dafür gibt es ausgebildete Soldaten, die dazu in der Lage sind, Terror zu verbreiten. Der größte Teil der Bürgerinnen und Bürger, waren nicht an diese Art der Unterdrückung gewöhnt, welche täglich in den Slums geschieht. Um sie einzuschüchtern, ist es nicht einmal erforderlich, die Waffen zu verwenden, die alltäglich in den Slums verwendet werden. Gummigeschosse, Tränengas und Schlagstöcke reichen diesmal völlig aus. Dafür gibt es die Militärpolizei. Aber nicht nur sie.

 

Die irreführenden Medien

Die Militarisierung des Alltags wird von einem Blick geprägt, der die Menschen, die aus der Peripherie kommen, insbesondere bedürftige Schwarze, kriminalisiert. Diese Maßnahmen müssen jedoch von irgendeinem Diskurs legitimiert werden. Dafür sind die Referenzmedien da. Wir erleben ja schon Ereignisse als Ergebnis einer medialen Aktion durch Bilder und Töne, die sich als eine Art von Gefühl anbiedern, wie wir in der Welt stehen. Eine Verbreitung von Realitätsbildern, welche neue Formen des Bezeugens hervorbringen. Der Mensch wird täglich spektakulären Bildern ausgesetzt, die ihn fesseln, und, die allmählich seine Weltauslegung durch stetige Wiederholung beeinflussen. Daraus wird erst ein plausibles Szenario geschaffen: Das Risiko des Vandalismus.

Neben der Idee, dass vor allem das Privateigentum verteidigt werden soll, werden jegliche materielle Schäden während der Demonstration abwertend erwähnt. Als Folge der Anwesenheit von Vandalen, die “ein Affront gegen die Rechtsstaatlichkeit” seien. “Anwesende Vandalen”, “anwesende Villanī” und “eminente Risiken” sind in der Medienberichterstattung gleichbedeutend. Solchen Risiken werden allerdings mit der Anonymität und Zwangsläufigkeit von Naturkatastrophen gekennzeichnet: die Stimme der tatsächliche “Vandalen” wird niemals gehört. Und in dieser Art von Szenario sind die Polizisten, “die wahren Helden”. Sie allein wissen, wie in einer solchen Situation vorzugehen ist.

Es geht jedoch vielmehr um Verteilungskonflikte, die natürlich nicht offen thematisiert werden können. Risiken bedeuten dann eigentlich, in diesem Sinne, die Umverteilung knapper gesellschaftlicher Ressourcen, wie Geld und Eigentumsrechte, Einfluss und Macht, Legitimität und Reputation, informatorische Sicherheit und organisatorische Planungskapazität. Der mediale Risikodiskurs führt dazu, dass die Konflikte, die sich an ihm entzünden, in erster Linie als Auseinandersetzungen um ihre soziale Definition geführt werden müssen.

Dies hängt jedoch unbedingt von dem Fehlen kritischer Aufmerksamkeit bzw. Ignoranz der Zuschauer ab. Ignoranz setzt sich dem Wissen allerdings nicht entgegen. Sondern sie ist ein außerordentlich nützliches Wissen, da sie, wenn sie absichtlich gefördert und gepflegt wird, die Aufmerksamkeit ablenkt von einem zentralen gesellschaftlichen Wissen: dem Wissen von dem, was Menschen wollen und wofür sie kämpfen.

Damit oktroyieren solch irreführende Medien den Menschen häufig ihre Realitätsbilder auf. Ein Beispiel: Brasilianische Fans brauchen neue Rufe. Wie wäre es damit? “Oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! Freude! Freude! Oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! oh! Freude! Freude!”. Oder: ist es ein Zeichen von Schwäche, wenn ein Mann weint? Es ist aber wichtig zu erkennen, dass das, was die Medien sagen, das Ergebnis eines Dialogs mit strategisch geformten Referenzen zu einem Kontext und einem Zuhörer ist. Die Medien sind nicht allein und arbeiten nicht umsonst.

Die Art und Weise, in der wir sozialisiert werden, geht unweigerlich mit Differenzierungssystemen einher. Es geht um die alltägliche Verwendung von Kategorien, die die Ausübung der verschiedenen Machtpositionen legitimieren und welche sich unter Umständen wechselseitig stützen und ignorieren: Dies gewährleistet nicht nur die Vorhersehbarkeit und Sicherheit dieser Ordnung, sondern vor allem die der errichteten Unterdrückungsstrukturen. Und solche (nicht immer) feinen Unterschiede hindern die Villanī immer noch daran, die Wahrheit als Waffe zu schwingen. Nein, Claudia Leitte, Pitbull und J.Lo. Ihr habt Unrecht. Leider sind wir nicht alle eins – oder zwei, oder drei.*

*Die Sängerin Claudia Leitte (rechts im Bild) interpretiert das Motte „We are one“ auf ihre eigene Weise.

Hintergrund zum Autor

João da Mata ist Student der Medienwissenschaften an der Universität in Belo Horizonte. Ein Auslandsjahr hat er in Augsburg verbracht. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus seinem wissenschaftlichen Essay zum Thema „Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien“ an der Universität Augsburg.

Anmerkung

Die Meinung des Autors spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.