Das Trauma kehrt zurück
Der Tag begann, wie er endete. Merkwürdig. Schon am Morgen des 8. Juli ist Rio nicht wiederzuerkennen, denn es regnet. Die einzigen Menschen am Strand von Ipanema sind fünf Müllmänner. Der Cristo Redentor, das Wahrzeichen der Stadt, steckt bis zum Hals in einer Wolkenmasse. Er kann nicht beobachten, was an diesem Tag in seiner Stadt vor sich geht. Und wird so auch niemals verstehen, warum am Ende des Tages ein Bild von ihm mit Manuel Neuers Gesicht auf Twitter die Runde macht.
(Rio de Janeiro)
Was war passiert? Vor dem WM-Halbfinale Deutschland gegen Brasilien waren doch alle so zuversichtlich. Nach der Verletzung von Neymar und der Sperre von Kapitän Thiago Silva, hatte sich nach einigen Tagen der Trauer spätestens gestern eine »Jetzt-erst-Recht-Stimmung“ breit gemacht. Die Menschen auf den Straßen, an ihren Arbeitsplätzen strahlen Zuversicht aus und tragen Gelb. So wie die Postbeamtin Ana. Sie ist sich sicher: »Die Seleçao holt den Titel für unser Land, es gibt keine Alternative«, sagt sie. »Wir gewinnen heute 1:0 durch ein Tor von Fred.«
Gegen 14 Uhr, drei Stunden vor dem Spiel, schließen viele Läden. Die Menschen bereiten sich mental auf den Finaleinzug vor. Im nassen Sand der Copacabana, wo wieder ein »Fanfest« stattfindet, stehen, sitzen und liegen tausende Brasilianer und starren in Vorfreude auf die Leinwand. Fliegende Händler lesen ihnen jeden Wunsch in Windeseile von den Augen ab. Das sind zunächst Bier und Caipirinhas und später improvisierte Regenmäntel aus Plastik. Ein Fan hält einen selbstgebastelten Sarg in Deutschland-Farben hoch und eine wilde Polonäse schließt sich ihm an. Deutsche Fans sind hier in der absoluten Minderheit. Nur eine kleine Traube von sieben, acht weißgekleideten Personen hat sich mitten in der gelben Menschenmasse einen Platz mit guter Sicht ergattert.
Sekunden vor Anpfiff prasselt ein erneuter Regenschauer auf die Copacabana nieder, doch kaum einer scheint das wahrzunehmen. Dann geht es los. Jetzt gilt es für Brasilien. Die Fangesänge ebben ab und konzentrierte Spannung tritt ein.
Das frühe 1:0 von Thomas Müller ist ein erster Stich in das Selbstvertrauen der brasilianischen Fans. »Das biegen wir noch um, keine Sorge.«, sagt ein Mädchen mit viel grün-gelber Schminke im Gesicht. Sie versucht sich selbst und die Menschen um sich herum zu beruhigen.
Doch als dann in den Minuten 23, 24, 26 und 29 im Rhythmus eines Maschinengewehrs vier Bälle mitten ins brasilianische Herz treffen, ist es vorbei. Keiner kann begreifen, was in diesen sechs Minuten passiert ist. Einige beginnen zu weinen, andere schütteln fassungslos den Kopf. Und eine kleine Gruppe Jugendlicher macht ungläubig und trotzig lachend ein Erinnerungsfoto von sich vor der Leinwand. Halbvolle Bierdosen fliegen umher. Selbst die vereinzelten deutschen Fans, stehen anstatt zu jubeln nur mit offenen Mündern da. Es ist der absurdeste Moment der WM.
Kurz vor der Halbzeit wird es plötzlich hektisch. Hunderte Menschen laufen mit Panik im Gesicht vom Strand aus Richtung Straße, immer mehr schließen sich ihnen an, ohne zu wissen, was eigentlich passiert ist. »Wenn ich ein Deutschland-Trikot anhätte, würde ich es ausziehen und nur noch rennen«, schreit ein Brasilianer. Die deutsche Fan-Traube löst sich innerhalb von Sekunden auf.
Wenige Minuten später ist der Tumult vorüber, es ist merklich leerer geworden vor der Leinwand. Die zweite Halbzeit läuft, aber kaum jemand schaut noch hin. Die Menschen sind mit sich selbst beschäftigt. Einer der wenigen übriggebliebenen deutschen Fans versucht seine brasilianischen Freunde zu trösten: »Wir sind 2006 zu Hause auch im Halbfinale ausgeschieden und trotzdem hatten wir eine tolle WM. Wenn ihr das Spiel um Platz 3 gewinnt, könnt ihr wieder feiern, so wie wir damals.«
Der 19-jährige Lucas, der extra aus Sao Paulo angereist ist, entgegnet daraufhin: »Keiner der Ausländer hier kann verstehen, wie wichtig das Spiel hier für unser Land ist. Ganz ehrlich, ich habe Angst vor dem Spielende. Ich weiß nicht, was dann noch passieren wird. Deutschland hatte nach der WM 2006 eine Zukunft. Wir Brasilianer haben nur diese WM und danach nichts mehr.«
Also Oscar kurz vor Spielende das einzige brasilianische Tor schießt, werden auf der Leinwand kurz nacheinander der lachende Torwart Julio Cesar und der fluchende Manuel Neuer eingeblendet. Sicherlich ein verzerrtes Bild, aber Lucas kann es nicht fassen: »Es sollte andersherum sein«, sagt er leise.
Etwas abseits von der Menge in der Nähe der Dixie-Klos, sitzt ein junger Mann namens Rodolfo zugedeckt mit einer Brasilien-Flagge im Sand. »Mein Vater hat mir immer von den großen Mannschaften aus den 60er und 70er Jahren erzählt, von den Toren Pelés und Mané Garrinchas. Was soll ich später meinen Kindern erzählen von der Heim-WM in Brasilien? Dass wir im Regen an der Copacabana standen und 1:7 gegen Deutschland verloren haben?«
Sekunden nach dem Abpfiff wird die Leinwand schwarz. Erinnerungen an die letzte WM in Brasilien 1950 werden wach. Sie hat sich in das kollektive Gedächtnis der Nation eingebrannt. Damals erlebte Brasilien seine bislang schmerzhafteste WM-Niederlage zu Hause im Entscheidungsspiel gegen Uruguay. Das Spiel ging als so genannter Maracanaço, als Tragödie im Maracana-Stadion in die Geschichte ein. Schon während des Achtelfinales 2014 gegen Chile wurde, als die Mannschaft am Rande der Niederlage war, vom Mineiraço gesprochen, in Anlehnung an das Estádio Mineirão in Belo Horizonte. Dieser wurde im Elfmeterschiessen gerade so abgewendet. Nun holt er Brasilien auf der Zielgeraden doch noch ein.
Hallo, ich habe heute (104.07.2014) nen Interview mit Tobias Zwior im Radiosender 89.0RTL gehört und gleich mal auf diese Seite geklickt. Ich muss schon sagen es sind super interessante Berichte auf dieser Seite zu finden. wirklich toll geschrieben und super interessant. Man merkt, dass er mitten im Getümmel war.
Super
Danke für diese Infos
Beste Grüße
Rico