Informationen für Superhelden

Informationen für Superhelden

Leonardo Sakamoto ist ein Besessener. Scheinbar noch im Halbschlaf sitzt er an seinem tadellos aufgeräumten Holzschreibtisch, das hauchdünne Macbook vor sich liegend. Doch der Eindruck täuscht. Der Mann ist hellwach – und in der Lage jeden Moment aus dem Stehgreif einen Monolog zu halten, in dem er Brasiliens Gesellschaftskrise, die WM, die anstehenden Wahlen und die Zukunft des Journalismus mühelos unterbringt. Wenn er nicht unterbrochen wird.

(São Paulo)

Sakamoto, 37, ist einer der Gründer und aktueller Präsident von Repórter Brasil, einer wissenschaftlich-journalistischen Denkfabrik aus São Paulo. Der Sohn eines Japaners und einer Brasilianerin arbeitet nebenbei noch als Blogger und Journalistik-Professor und gilt als einer der intellektuellen Vordenker eines neuen, demokratischeren Brasiliens.

ecke: Herr Sakamoto, die WM hat begonnen und schon am Eröffnungstag gab es in mehreren Städten ähnliche Proteste wie im Vorjahr während des Confederations-Cup. Wiederholt sich die Geschichte?

Leonardo Sakamoto: Nein, das glaube ich nicht, zumindest nicht in dem Ausmaß des Vorjahres. Aber das habe ich erwartet. Es geht schließlich immer noch um Fußball. Und zwar diesmal um eine Weltmeisterschaft, nicht um ein Vorbereitungsturnier. Die Leute in Brasilien lieben den Fußball, auch viele der Leute, die bei den Protesten den Ton angeben. Daher können Demos schon mal für ein wichtiges Spiel unterbrochen werden.

ecke: Parolen wie »Nao vai ter Copa« (»Es wird keine WM geben«) lassen anderes vermuten.

Sakamoto: Das ist das große Missverständnis. Viele haben immer noch nicht begriffen, dass die Proteste sich gegen die Prioritäten der Regierung und nicht gegen den Fußball an sich richten. Am liebsten würden wir Brasilianer Fußball und Politik trennen. Aber das geht eben auch nicht: Fußball ist Politik.

ecke: Warum fällt es vielen so schwer, zu verstehen, worum es bei den Protesten genau geht?

Sakamoto: Das liegt unter anderem an den unübersichtlichen Interessensgruppen innerhalb der Regierungsgegner. Ein Beispiel: Der Großteil der Brasilianer im Stadion sind reiche Leute. Die Stadien wurden für sie gebaut. Und die Reichen mögen Dilma (Rousseff) und ihre Arbeiterpartei nicht. Auch sie sind daher letzten Sommer auf die Straße gegangen. Die Wut der Demonstranten, die vor ein paar Tagen zum Beispiel im Stadtteil Tatuapé Polizeigewalt erlitten haben richtet sich natürlich ebenfalls gegen die Regierung. Und gleichzeitig sind, einfach ausgedrückt, die reichen Brasilianer im Stadion gegen die mittellosen Brasilianer auf den Straßen. Die Mittellosen fordern mehr Rechte und die Reichen wollen ihnen genau diese nicht zugestehen. Beide sind also im Vorjahr aus denselben, aber gleichzeitig auch aus unterschiedlichen Gründen auf die Straße gegangen.

ecke: Also fällt ein Teil der Demonstranten aus dem Vorjahr dieses Jahr weg?

Sakamoto: Genau. Das sind die Oberschicht und auch Teile der Mittelschicht. Letztere wägen ökonomisch genau ab: Wenn man elektronische Sachen kaufen kann, wenn die Kinder auf eine ordentliche Schule gehen können, wenn man einmal im Jahr verreisen kann, dann wird man während der WM nicht auf die Straße gehen. Doch was trotz des verringerten Ausmaßes der Proteste Hoffnung macht ist: Es sind die jungen Leute, die die treibende Kraft darstellen. Sie sind nicht glücklich mit der aktuellen Demokratie und suchen einen neuen Weg. Sie wollen eine direktere Demokratie und weniger Staatsgewalt, weniger Korruption.

ecke: Wird Brasiliens Abschneiden bei der WM einen Einfluss auf die diesjährige Wahl haben?

Sakamoto: Das glaube ich nicht. Man kann das nicht schwarzweiß betrachten, nach dem Motto: Wenn Brasilien Weltmeister wird, hat Dilma recht und alle Kosten sind gerechtfertigt und wenn nicht, ist alles schlecht. Im Übrigen zeigt auch die jüngere Vergangenheit keine positive Korrelation zwischen WM-Sieg und Wiederwahl. Im Gegenteil. 1994 wurde die Regierung nach dem Sieg abgewählt, die neue blieb auch nach dem Ausscheiden 1998 im Amt. 2002 wurden wir wieder Weltmeister, aber es gab einen Regierungswechsel. Zum ersten Mal wurde ein Präsident der Arbeiterpartei, Lula, gewählt. 2006 und 2010, nach jeweils frühem Ausscheiden, blieb die Arbeiterpartei trotzdem an der Macht. Die Wahl 2014 gewinnt meiner Meinung nach, wer das große Thema der Sicherheit in den Griff bekommt.

ecke: Sehen Sie, neben dem Unterhaltungsfaktor Fußball, weitere positive Seiten an der WM?

Sakamoto: Ja und die sehe ich unter anderem in São Paulo. Hier gibt es viele arme Leute, nicht nur Brasilianer, sondern auch aus anderen, ärmeren südamerikanischen Ländern und viele reiche Leute, die für Geschäfte hier sind und die man nicht sieht, da sie in Autos oder Helikoptern unterwegs sind. Touristen gibt es normalerweise im Gegensatz zu Rio de Janeiro nur sehr wenige. Durch die WM werden diese Strukturen etwas aufgemischt. Die ärmeren Schichten verdienen an den Touristen, die Businessleute sieht man auch mal auf der Straße. Und auch die Mittelklasse rund um die Avenida Paulista oder in Vila Madalena kommt jetzt langsam aus sich heraus. Für sie ist die WM eine Gelegenheit sich zum Beispiel mit Touristen auszutauschen und eine gute Zeit zu haben. Und nochmals: Die WM hat uns in einer Sache jetzt schon gesellschaftlich immens voran gebracht: Seit der Redemokratisierung 1985 ist es das erste Mal, dass sich etwas ändert. Es wird nach der WM schwieriger sein für Politiker, Medien und Firmen etwas zu verstecken. Die Leute bilden jetzt Netzwerke, finden andere Wege zu kommunizieren. Sie fordern mehr. Sie erhöhen die Ansprüche. Und das ist etwas Gutes.

ecke: Was ist ihre persönliche Meinung zur WM in Brasilien?

Sakamoto: Ich habe gemischte Gefühle. Die im Zuge der WM neu gebauten Flughäfen und Straßen sind langfristig gut für das Land. Einige der Stadien jedoch definitiv nicht. Dazu hat die Fifa so viele Restriktionen eingeführt, die ich einfach nicht verstehen kann. Dagegen müssen wir vorgehen, das müssen wir ändern. Im Gegensatz zu Russland und Katar ist Brasilien trotz allem ein demokratisches Land, das sich nicht einfach von der Fifa überrollen lässt.

Während des Gesprächs schielt Sakamoto ständig mit einem Auge auf seinen Laptop, scannt kurz die Informationen und spricht dann weiter. Schon früh am Morgen wird klar, dass von vielen verschiedenen Seiten um seine Aufmerksamkeit gebuhlt wird. Sakamoto ist ein gefragter Mann. Seinen täglichen Blogbeitrag lesen zehntausende Menschen, auf Twitter folgen ihm rund 35.000.

WP_20140616_018

Die Zentrale von Repórter Brasil in São Paulo (Bild: T. Zwior)

ecke: Woran arbeiten Sie und Ihre Kollegen bei Repórter Brasil?

Sakamoto: Repórter Brasil ist eine NGO. Unsere Mission ist es Menschenrechtsverletzungen in Brasilien zu identifizieren und kritisieren. Dafür wollen wir ein Bewusstsein bei sozialen, wirtschaftlichen und politischen Führungskräften kreieren. Wir verteidigen Menschenrechte, indem wir zum Beispiel über moderne Sklavenarbeit, Menschenhandel, Kinderarbeit und die Diskriminierung indigener Gemeinschaften aufklären. Ein weiterer großer Teil unserer Arbeit dreht sich um Umweltschutz.

ecke: Wie setzt Reporter Brasil diese Ziele um?

Sakamoto: Wir sammeln, analysieren und verbreiten Informationen. Man kann unsere Organisation in vier Bereiche gliedern: In ein Bildungsprogramm, in dem wir in mehr als 120 Städten Materialen zu den Themen Menschenrechte und Umweltschutz an lokale Führungskräfte und Lehrer verteilen und sie in Seminaren schulen. In eine Nachrichtenagentur, verbunden mit einer eigenen Produktionsfirma für längere Dokumentarfilme. In ein Research-Programm, in dem wir in Kooperationen mit Wissenschaftlern an Universitäten, Journalisten und anderen NGOs Studien erarbeiten und veröffentlichen. Und zuletzt haben wir auch eine Beratungsfunktion, sitzen in vielen lokalen Gremien und haben zum Beispiel auch Kontakte zum Bildungsministerium. In unseren Fachgebieten haben wir uns in den letzten Jahren zur vertrauenswürdigsten Quelle Brasiliens entwickelt. Journalisten aller Medienhäuser zitieren uns regelmäßig. Unser Rohstoff ist die Information, egal ob wissenschaftlich oder journalistisch.

ecke: Welche konkreten Projekte gibt es im Zuge der WM?

Sakamoto: Während des Stadionbaus sind in einigen Städten unverzeihliche Dinge geschehen. Es gab insgesamt elf Tote mit direkter Verbindung zur WM. Darüber haben wir berichtet und tun es immer noch. Am Ende haben die Verantwortlichen versucht den Bau mit allen Mitteln zu beschleunigen. Darunter haben die Arbeiter enorm gelitten. Der menschliche Körper ist keine Maschine. Außerdem gab es einen großen Fall von moderner Sklavenarbeit in São Paulo. Das Bauunternehmen OAS hat 100 Arbeiter beim Bau des Terminal 3 am Flughafen Guarulhos, das extra für die WM gebaut wurde, in menschenunwürdigen Verhältnissen beschäftigt. Letztes Jahr hat das Arbeitsministerium sie befreit, nachdem wir die Nachricht in die Welt gebracht hatten. Und aktuell haben wir eine Studie veröffentlicht, die sich unter anderem am Beispiel der WM und der Olympischen Spiele 2016 mit der Organisation von sportlichen Großereignissen und ihren gesellschaftlichen Risiken befasst.

Immer wieder wird Leonardo Sakamoto angerufen. Er geht nicht immer dran, aber wenn doch, spricht er mit geschlossenen Augen und gestikuliert dabei wild. »Leo, was ist los, warum antwortest du nicht?«, schreibt jemand in seinem Messenger.

WP_20140616_014

Leonardo Sakamotos Mitarbeiter im Büro (Bild: T. Zwior)

ecke: Sie arbeiten mit jungen, aufstrebenden Journalisten, die alles anders machen wollen, wie zum Beispiel den Mídia Ninjas zusammen, gleichzeitig aber auch mit den etablierten, konservativen Medienhäusern. Wie verträgt sich das?

Sakamoto: Wie gesagt, wir respektieren die Arbeit der verschiedenen journalistischen Gruppierungen. Natürlich haben wir eine eher linke Sichtweise, aber auch konservative Journalisten bedienen sich unserer Infos. Und wir sagen zu keinem Nein, geben all unsere Informationen frei raus. Auch die Fotos kann jeder verwenden. Meine Gründerkollegen und ich kennen uns aus in der Medienszene. Wir haben mit den Machern der traditionellen Medien gemeinsam an der Journalistenschule gelernt. Wir haben zwar in fast allem unterschiedliche Meinungen, aber trotzdem sind wir Freunde.

ecke: Wie geht es mit dem Journalismus in Brasilien weiter?

Sakamoto: Der Journalismus ist an einer Kreuzung aktuell. Die etablierten Journalisten in Brasilien stehen, wie in vielen anderen Ländern auch, nicht mehr oben auf dem Hügel – und das Volk hört nur zu. Das gibt es nicht mehr. Viele nicht journalistisch ausgebildete Menschen wollen nun ebenfalls analysieren, filtern und Zusammenhänge erklären. Journalisten, die das nicht verstehen, werden verschwinden.

ecke: Sie haben Repórter Brasil damals, 2001, mitgegründet. Aus welcher Motivation heraus?

Sakamoto: (grinst) Wir wollten natürlich die Welt ändern. Viele Journalisten denken, sie sind die Clark Kents, sie können die Welt mit ihren eigenen Händen ändern. Aber das funktioniert nicht. Wir bei Reporter Brasil wollen die Welt ändern, indem wir die wirklichen Superhelden mit Informationen versorgen. Die fliegen draußen umher, kämpfen gegen das System, gegen soziale Ungleichheiten. Aber zum Fliegen, brauchen sie Informationen. Und die geben wir ihnen. Politikern, sozialen Führungskräften, auch Unternehmern. Sie schaffen die Veränderungen, die Brasilien braucht.

ecke: Letzte Frage: Sie arbeiten Vollzeit bei Repórter Brasil, lehren an der Universität Journalismus und verfassen jeden Tag einen längeren Blogbeitrag. Wann schlafen Sie?

Sakamoto: Keine Sorge, ich schlafe – manchmal zumindest.