»Das hier ist unsere WM« - oder?

»Das hier ist unsere WM« – oder?

Die Universität in Belo Horizonte ist idyllisch gelegen. Inmitten einer Grünanlage mit dem See »Lagoa da Pampulha«, der noch von Oscar Niemeyer entworfen wurde, als Rückzugsort. Das WM-Stadion Estádio Mineirão liegt ebenfalls in dieser Idylle. Hier beginnt das Problem.

 

(Belo Horizonte)

João studiert seit einigen Jahren Medienwissenschaften an der Universidade Federal de Minas Gerais. Er ist ein fröhlicher Mensch, den eigentlich so schnell nichts aus der Ruhe bringen kann. Doch das ist seit rund drei Wochen anders, seit die WM begonnen hat. »Hier hat sich in kürzester Zeit sehr viel verändert«, sagt er. »Die Busse fahren auf einmal anders, überall sind Polizisten, kleine Geschäfte in der Umgebung mussten schließen, der Verkehr ist langsamer, die Stadt ist voll, die Stadt ist stressig.« Der Campus seiner Universität hingegen ist leer und wirkt wie ausgestorben. Das Semester wurde in diesem Jahr schon einen Monat eher als gewöhnlich beendet, da den Organisatoren der WM der laufende Uni-Betrieb in direkter Nähe des Stadions ein Dorn im Auge war. Aus diesem Grund musste João sein Auslandssemester in Deutschland Anfang des Jahres ebenfalls einen Monat früher abbrechen, um rechtzeitig zu Semesterbeginn in Belo Horizonte zu sein. Jetzt, in den verfrühten Ferien, schreibt er an mehreren Hausarbeiten, die er an seine deutsche Uni nachreichen muss.

Blick auf das Estádio Mineirão vom Uni-Campus aus (Bild: T. Zwior)

Blick auf das Estádio Mineirão vom Uni-Campus aus (Bild: T. Zwior)

In Joãos Studentenwohnheim, zu Fuß keine zehn Minuten vom Stadion entfernt, herrscht eine bedrückte Stimmung. Viel wird in diesen Tagen über die WM gesprochen. Kein Morgen beginnt, ohne, dass beim typischen »Café da manhã« (Morgenkaffee) das Wort »Copa« fällt und auch abends, bei einer kühlen »Cerveja«, kommt kein Gespräch ohne dieses Wort aus. Die wenigen im Wohnheim verbliebenen Studenten diskutieren leidenschaftlich über alles, was mit dieser WM zu tun hat, nur nicht über Fußball. »Ich kann nicht ignorieren, was hier in meinem direkten Umfeld vor sich geht. Da kann und will ich mich nicht auch noch auf die Spiele konzentrieren«, sagt João. Und eine seiner Kommilitoninnen drückt es noch drastischer aus: »Für mich gibt es keine Fußball-WM«, sagt sie. Die Studenten zeigen sich jeden Tag gegenseitig Videos der letzten Demonstrationen gegen die WM und lesen sich Artikel aus vertrauenswürdigen Quellen vor.

»Hier (auf dem Campus) ruht die Fifa« (Bild: T. Zwior)

»Hier (auf dem Campus) ruht die Fifa« (Bild: T. Zwior)

Belo Horizonte, im Volksmund nur »BH« (sprich »be-agá«) genannt und Hauptstadt des Bundestaates Minas Gerais, gilt als eine der Hochburgen der Protestbewegung – und die Studenten sind ihre treibende Kraft. Bei einer Demonstration am ersten Wochenende nach WM kamen rund 1000 Menschen auf der Praça Sete, einem der zentralen Plätze der Stadt zusammen. Das sind nicht viele – verglichen mit dem Vorjahr. Trotzdem waren es genug, um die Militärpolizei in Alarmbereitschaft zu setzen. Rund 12.000 Militärpolizisten kesselten die Demonstranten auf dem Platz ein, keiner kam mehr rein, keiner konnte raus. »Das war maßlos übertrieben und hat uns nur noch wütender gemacht«, sagt João, der mit einigen Freunden an der Demo teilgenommen hat. Obwohl keine Gewalt von Seiten der Demonstranten ausging wurden 25 von ihnen von der Polizei festgenommen und einer durch ein Gummigeschoss leicht verletzt.

Die Militärpolizisten sind eines der Phänomene, die während dieser WM besonders auffallen. Insgesamt 15.000 von ihnen weilen momentan in Belo Horizonte. An nahezu jedem wichtigen öffentlichen Ort der Stadt stehen sie und beobachten. Mehr als seltsam wirkt es, wenn sie darüber hinaus noch versuchen, Sympathien für sich zu gewinnen. In einem Park, unweit der Praça Sete, gipfelt diese Absicht in einem skurrilen Szenario: Vor einem Banner mit der Aufschrift »Es existieren Superhelden im realen Leben«, können Kinder gemeinsam mit einem grinsenden Polizeimaskottchen und einem »Superman« (der zudem noch stark an Cristiano Ronaldo erinnert) für ein Erinnerungsfoto posieren. Die Militärpolizei versucht sich als familientauglicher Freund und Helfer zu inszenieren, wirkt aber eher wie eine plumpe Version des Orwellschen »Big Brother«.

Gleich zwei Helden auf einem Bild: Militär-Maskottchen und Super-Ronaldo (Bild: T. Zwior)

Gleich zwei Helden auf einem Bild: Militär-Maskottchen und Super-Ronaldo (Bild: T. Zwior)

Ein paar hundert Meter entfernt, soll es an diesem Tag aber dann doch noch Arbeit für die Supermänner geben. Zumindest, wenn man den Facebook-Gruppen Glauben schenkt, über die João und seine Mitstreiter kommunizieren. In unregelmäßigen Abständen wird dort eine »Assembleia Popular Horizontal« einberufen, eine Versammlung, in der demokratisch die nächsten Schritte des Protests geplant werden. Für das vergangene Wochenende waren das eine neue Demo an der Praça Sete sowie eine Besetzung eines weiteren zentralen Platzes, um dort ein alternatives Fußballturnier auszutragen. João und die anderen Studenten aus dem Wohnheim haben hohe Erwartungen an die kommenden Tage.

Von der Demo ist allerdings am vereinbarten Ort zur vereinbarten Zeit nicht viel zu sehen. Gegenüber des Obelisken der Praça Sete haben sich nicht mehr als 20 Personen versammelt. Zwei, drei Banner und die Bilder der beim Stadionbau gestorbenen Arbeiter halten sie in den Händen. Drumherum stehen – natürlich – fast gelangweilt rund 50 Militärpolizisten. Ein Mikrofon wird unter den Demonstranten abwechselnd herumgereicht und jeder, der möchte, kann etwas sagen. Der Großteil der Redner spricht über Bildung, Gesundheit und Korruption. Einige fordern die Regierung auf, Marihuana zu legalisieren, wie es vor kurzem in Uruguay geschehen ist. Und es gibt vereinzelte »Fifa raus«-Gesänge. João ist enttäuscht. »Vielleicht ist das nur ein Ablenkungsmanöver und dafür ist woanders mehr los. Oder sie haben für die Besetzung morgen noch viel vorzubereiten.«

Die Demonstration auf der Praca Sete (Bild: T. Zwior)

Die Demonstration auf der Praca Sete (Bild: T. Zwior)

Doch auch am nächsten Tag ist von Protesten keine Spur. Angekündigt war es, um 12 Uhr mittags die Praça da Estação, benannt nach dem alten Bahnhofsgebäude davor, zu besetzen. Bis auf die Militärpolizisten ist allerdings noch niemand da. Erst gegen 15 Uhr trudeln die ersten Menschen ein und beginnen zu musizieren und zu tanzen. Eine Stunde später sind rund 300 Menschen versammelt, hauptsächlich Studenten. Die Militärpolizisten verziehen keine Miene und bilden wieder eine Art Kreis um die Praça. Doch innendrin protestiert niemand. Stattdessen findet das angekündigte Fußballturnier statt. »Das hier ist unsere WM«, ruft einer. Dann wird gespielt. Harakiri statt Tiki-Taka. Und der Schiedsrichter ist bezeichnenderweise ein Clown mit Aktenkoffer in der Hand. Trotzdem fällt bei fast jedem Tor der Jubel der Spieler und Zuschauer emotionaler aus, als vielerorts bei den WM-Toren von Neymar.

Joao und seine Freunde auf dem Weg zur Besetzung (Bild: T. Zwior)

João und seine Freunde auf dem Weg zur Besetzung (Bild: T. Zwior)

WP_20140622_026

Ob dieser Schiedsrichter die Fifa-Zulassung bekommen hätte? (Bild: T. Zwior)

Langsam wird es dunkel. Der Platz ist jetzt noch voller geworden, ein mobiler Grillmeister verkauft Fleisch mit Bohnen und Reis. Es treten einige Bands auf und Trommel-Trupps ziehen umher. Die Praça da Estação ist zum Ort eines Straßenfests geworden, einige der Militärpolizisten sind wieder gefahren. Zwischen zwei Liedern ruft der Sänger einer Band ins Mikrofon: »Wir haben zwar hier Spaß, aber vergesst nicht, dass wir gegen die Fifa sind.«

Die Studenten in Belo Horizonte sind wütend. Aber sie schaffen es zur Halbzeit der WM nicht, ihre Wut auf die Straße zu bringen.

Der Mannschaftsbus der Militärpolizei kann wieder abfahren (Bild: T. Zwior)

Der Mannschaftsbus der Militärpolizei kann wieder abfahren (Bild: T. Zwior)